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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Blitze genauso gut zu kennen wie den Regentropfen, der auf meine ausge streckte Hand fällt. Alle meine Sinne sind geschärft. Selbst die Hitze des Blitzes ist mir nicht fremd, das plötzliche Sterben des Baumes, in den er einschlägt, der Geruch der verbrannten Borke, der Geschmack, der allem anhaftet: verkohlte Wurzeln, Entladung der Elektrizität, Regen.
    Graham sammelt Regen in seiner hohlen Hand und streckt sie mir entgegen. »Trink.« Ich tauche meine Zunge in das kühle stille Wasser. Ich bin Eva, doch ich nehme, statt zu geben. Von diesem Mann würde ich alles annehmen: Wasser, einen vergifteten Apfel, die Frucht vom Baum der Erkenntnis, die das Wissen um Gut und Böse birgt.
    »Trink und dich wird niemals mehr dürsten«, sagte der Prediger der Kirche in Greenbrook, der Amanda Ruth angehörte. Manchmal nahm sie mich dorthin mit. Ihre Mutter, in einem wallenden gelben Gewand, sang im Chor, sie stand in der Mitte der ersten Reihe. Ihr Vater saß alleine in seiner Bank, die Hände im Schoß gefaltet, der einzige Nicht-Weiße in der zweihundert Seelen zählenden Gemeinde, die sich zum Gottesdienst versammelt hatte. Beim Abendmahl, das viermal im Jahr stattfand, teilten die Diakone mit Grapefruitsaft gefüllte Zinnbecher aus, nicht größer als ein Fingerhut, und blasse, nach nichts schmeckende Oblaten, die Mehlspuren auf unseren Fingern hinterließen. Während des Abendmahls konnte ich die Zinnbecher auf den Tabletts klappern hören – hunderte von kleinen Zinnbechern, ein dutzend große Silbertabletts, das Tappen der Schuhe, wenn die Diakone über den dicken roten Läufer schritten. Nachdem die Gläubigen das Blut Christi getrunken hatten, sammelten die Diakone die Becher wieder ein und stellten sie in kleine runde Vertiefungen in den Tabletts. Ein Mann in einem glänzenden braunen Anzug nahm Mr. Lees Becher und stellte ihn umgekehrt hin. Auf diese Weise wurde er für eine besonders gründliche Reinigung gekennzeichnet – oder gleich weggeworfen. Mr. Lee gab vor, nichts zu bemerken.
    Ich schmiege meinen Kopf an Grahams Brust. Ich kann nicht aufhören, an unsere Zeit in der Höhle zu denken. An Bord des Schiffes, umgeben von Chrom und Plastik und anderen Passagieren, den Launen der Besatzung und dem nervtötenden Klang Der Stimme ausgesetzt, ist mir, als sähe ich den Kiesweg, die Höhle und Grahams Hände vor mir, die sich gegen meine Oberschenkel pressen.
    »Zweiunddreißig«, sagt er. »Du bist ja noch ein Kind. Weißt du, dass ich zum ersten Mal mit einer jüngeren Frau zusammen bin?«
    Ich rieche die Fasern seines Hemdes, feucht von den Regentagen. Meine eigene Kleidung ist ständig verknittert, hat jede Frische verloren. Schlaff hängt sie auf den Holzbügeln in unserem winzigen Schrank. Die Putzkolonne bringt die Kabinen jeden Morgen gründlich auf Vordermann, doch die Feuchtigkeit hält sich hartnäckig, in den Ritzen schimmelt es, seltsame Gerüche haften unserer Sommergarderobe an.
    »Glaubst du, dass ich dir gut tue?«
    Er lächelt. »Kann ich noch nicht sagen, ist noch zu früh.«
    Als ich abends die Kabine betrete, hat sich Dave auf der Tagesdecke ausgebreitet, schnarchend. »Dave?« Er wacht nicht auf. Ich berühre ihn an der Schulter. »Dave?«
    »Hmmm?« Er öffnet die Augen und schließt sie gleich wieder.
    »Zeit fürs Abendessen.«
    »Macht es dir etwas aus, ohne mich zu gehen? Ich bin völlig erledigt.« Er rollt sich auf die Seite und ist im Nu wieder eingeschlafen. Ich staune immer wieder aufs Neue über seine Fähigkeit zu schlafen, zu gleich welcher Tageszeit in einen tiefen, traumlosen Winterschlaf überzuwechseln, als sei sein Körper darauf programmiert, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Schlaf auf Vorrat anzulegen, ein übermenschliches Energiereservoir, das ihm ermöglicht, unverzüglich aktiv zu werden, wenn seine Dienste gebraucht werden.
    Im Speisesaal setze ich mich zu Graham und Stacy. Es gibt Tofu, gepökeltes Schweinefleisch und Kohl – das erste chinesische Gericht, das man uns an Bord serviert, und das bisher schmackhafteste. Stacy trommelt nervös mit dem Fingernagel gegen ihr Wasserglas und späht immer wieder zur Tür. »Wo ist Dave?«, fragt sie schließlich.
    »Im Bett.«
    »Dafür ist es noch viel zu früh.«
    »Er schläft viel.«
    »Vielleicht leidet er unter diesem Syndrom, von dem man so oft hört, wie heißt es gleich wieder, ach ja, chronische Erschöpfung.«
    »Er ruht sich nur für den nächsten großen Notfall aus.«
    Sie rührt ihr Essen kaum an, ist

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