Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
die Ohren, erwarte, Dave schnarchen zu hören, eine Silhouette auf dem Bett auszumachen. Doch da ist kein Laut, keine Silhouette. Ich knipse das Licht an. Das Bett ist unberührt, die Kabine leer. Ich öffne den Schrank, sehe Daves Hemden vor mir, die ordentlich in einer Reihe auf den Holzbügeln hängen. Blau, braun, rostfarben, das blassgelbe, das ich ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt habe. Ich frage mich, warum er es mitgenommen hat, versuche, etwas in diese kleine Geste hineinzuinterpretieren – will er mir damit ein Zeichen geben? Dass er bereit ist, Zugeständnisse zu machen? Will er mir damit sagen, dass er dieses Geschenk mit Vorliebe trägt? Ich stelle ihn mir in seiner Wohnung Ecke 81. Straße und York vor, wie er sich ankleidet, um abends auszugehen. Aus dutzenden von Hemden wählt er meines aus. Er knöpft es langsam zu und denkt dabei an mich.
Ich lasse meine Finger über die Baumwolle gleiten, beuge mich näher zum Schrank, möchte ihn einatmen – seinen Geruch, seine Gegenwart. Doch seine Kleider riechen nicht wie er. Sie riechen nach Fluss. Und dann bemerke ich das kleine weiße Ding, das an der Manschette des gelben Hemdes hängt – das Preisschild. Er hat es noch nie getragen.
Ich lege mich aufs Bett, starre an die Decke, warte. Ich könnte nicht genau sagen, auf was. Ich fühle mich gespalten, aus dem Lot. Ich möchte aufhören, Dave zu lieben. Warum gelingt mir das nicht? Und ich möchte Graham, der mich ganz offensichtlich braucht, gehören, mit Haut und Haaren. Wenn Dave mich anblickt, sieht er nichts in mir und wenn doch, dann die Vergangenheit. Wenn Gra ham mich anblickt, sieht er … was – Hoffnung? Seine kurze Zukunft? Vielleicht habe ich in gewisser Hinsicht mehr Ähnlichkeit mit Dave, als ich mir eingestehen wollte. Vielleicht sehnt sich ein kleiner Teil von mir danach, den Retter zu spielen.
Es gibt etwas, was ich meinem Mann sagen muss, ich bin mir nur nicht sicher, was. Ich gebe dir eine halbe Stunde, denke ich. Wenn du in einer halben Stunde nicht zurück bist … Was dann? Wie lautet mein Ultimatum? Und sollte jemand, der ein Ultimatum stellt, nicht etwas anzubieten haben, das sich zu tauschen lohnt? Ich schaue auf die Uhr. Die Minuten verstreichen, in Rot. 9:31 …, 9:3 7 …, 9:45 …, 9:59. »Noch eine Minute«, sage ich laut. Ich zähle die Sekunden, eins Mississippi, zwei Mississippi, drei Mississippi. Keine Schritte im Gang. Kein Rütteln am Türgriff.
»Na gut«, sage ich um Punkt zehn und stehe auf. Ich streiche mein Kleid glatt, schlüpfe in ein Paar Sandalen und überprüfe mein Aussehen im Spiegel, dankbar für die schlechte Qualität des Glases, die Verschwommenheit des Spiegelbildes. Ein Hauch Puder, ein Hauch Rouge. Ich sperre die Tür hinter mir zu, habe Lampenfieber wie ein Teenager auf dem Weg zum Schulball. Ich bin auf der Suche. Doch es ist nicht Dave, nach dem ich suche.
Ich halte auf dem ganzen Schiff nach ihm Ausschau, überall dort, wo Graham und ich gemeinsam waren, kann ihn jedoch nirgends finden. Ich bin einer Panik nahe, zähle die Tage an einer Hand ab, die uns verbleiben, zerlege die Tage in Stunden und die Stunden in Minuten, stelle mir meine Rückkehr zur Normalität vor, in den ereignislosen, gleichförmigen Alltag meiner Wohnung in der 85. Straße. Meine Wohnung, nicht länger unsere , die Seite des Kleiderschranks, die Daves Garderobe enthielt, ist leer geräumt, die beiden obersten Schubladen der Kommode gleichen aufgerissenen, hungrigen Mündern. Ich klopfe an Grahams Tür, zuerst leise, dann kräftiger. Keine Antwort. Einige Minuten später hämmere ich gegen die Tür, rufe zu laut »Graham, bist du da?«. Ein älteres Paar eilt im Gang an mir vorüber, bleibt stehen, starrt mich an. »Alles in Ordnung, Schätzchen?«, fragt die Frau. Erst da merke ich, dass mein Gesicht tränenüberströmt ist.
Es ist Graham, der mich findet, als ich eine halbe Stunde später alleine im Salon sitze. »Ich habe auf dich gewartet«, sage ich.
Es regnet noch immer. Graham und ich gehen zur Racketball-Halle, in der Annahme, dass zu so später Stunde niemand mehr dort ist. Wir gehen am Anmeldepult vorbei und wollen gerade eintreten, als eine Stimme hinter uns sagt: »Halt! Sie eintragen!« Wir gehen zum Pult, wo uns ein schläfriger Hallenwart ein Klemmbrett zuschiebt. »Sie hier Unterschrift vor Spiel.« Laut Namensschild haben wir es mit Bill Clinton zu tun.
»Es ist gleich Mitternacht«, wirft Graham ein. »Wir wollen nicht Racketball
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