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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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während der ganzen Mahlzeit in sich gekehrt.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ich dachte nur, dass er mit uns isst.« Sie zieht sich noch vor dem Dessert zurück.
    Als sie gegangen ist, entspannt sich Graham, streckt die Hand über den Tisch und berührt meinen Arm. »Es ist nicht leicht. Ich meine, diese Scharade aufrechtzuerhalten und so zu tun, als wären wir nichts weiter als Freunde.«
    »Was sind wir denn?«
    Er lacht. »Komplizen, vermutlich.«
    Matt Dillon bringt Kaffee, Käsekuchen und frische Gabeln und räumt Stacys Platz ab. Seine Bewegungen sind sparsam und präzise, sein Auftreten so elegant, dass es aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint.
    »Nicht, dass Stacy etwas bemerkt hätte«, fügt Graham hinzu. »Sah ganz so aus, als wäre sie mit ihren Gedanken woanders gewesen.«
    »Mit Sicherheit.« Ich stelle mir Stacy im Gang vor, wie sie an unsere Kabinentür klopft. Und Dave, der schlaftrunken aus dem Bett steigt und in Unterwäsche zur Tür geht. Als er sie sieht, späht er den Gang entlang, in beide Richtungen, überlegt einen Moment. »Komm herein«, sagt er. Sie kommt seiner Aufforderung nach.
    Sollte ich ihr folgen? Um sie in flagranti zu erwischen? Vielleicht bilde ich mir das Ganze nur ein. Vielleicht stimmt es, was Dave behauptet – dass er ihr nur helfen möchte. Wie auch immer, ich habe keine Lust, ihr nachzuschlei chen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein Grund sitzt direkt vor mir und kratzt den letzten Krümel Käsekuchen von seinem Teller.
    »Hallo, jemand zu Hause?«, sagt er.
    »Hmmm?«
    »Warst du abwesend?«
    »Ich bin voll da.«
    Nach dem Abendessen kehren Graham und ich in unsere verwaiste Bar zurück, wo er mir Passagen aus der Briefsammlung Vincent van Goghs vorliest. Der Auszug stammt aus einem Brief, den Vincent 1888 an seinen Bruder schrieb: Ich beginne allmählich, den Wahnsinn als eine Krankheit wie jede andere zu betrachten … eine schleichende, die genauso langsam vergeht, wie sie gekommen ist, vorausgesetzt natürlich, dass sie vergeht.
    »Ich würde alles geben, wenn ich mit ihm tauschen könnte«, sagt Graham. » ALS gegen eine solche Krankheit.«
    »Wie den Wahnsinn? Das ist doch nicht dein Ernst.«
    »Wahnsinn, Alkoholismus, Herzerkrankung – alles, was auch nur ansatzweise die Möglichkeit einer Genesung beinhaltet.«
    »Bei van Gogh ist keine Besserung eingetreten.«
    »Selbst die Illusion einer Heilungschance ist besser als die Gewissheit, dass es keine gibt.«
    »Wenigstens bist du geistig gesund.«
    »Bei ALS sind die Opfer leider viel zu klar im Kopf. Selbst wenn man bereits vollständig gelähmt ist, funktioniert das Gehirn einwandfrei.« Er klappt das Buch zu, blickt den Einband mit dem Selbstporträt van Goghs an, fährt mit dem Finger über das ausgemergelte Gesicht. »Wenn du eine Degenerationskrankheit hättest, welche würdest du wählen?«
    »Die Frage kann ich nicht beantworten.«
    »Versuch es.«
    »Warum?«
    Graham fährt sich mit der Hand durch die Haare, spielt mit den Ingwerstäbchen, dann blickt er mich an. »Jeder gesunde Mensch sollte wenigstens einen Tag lang die Erfahrung machen, wie es ist, wenn man an einer schleichenden tödlichen Krankheit leidet.«
    Ich stelle mir Graham im Bett vor, regungslos ausgestreckt, auf die Hälfte seines normalen Gewichts abge magert, unfähig, auch nur die Hand zu heben und sich das Gesicht zu kratzen, unfähig, den Kopf zu drehen. Ich stelle mir Graham vor, an zahlreiche Schläuche angeschlossen, die Krankenschwestern, die auf leisen Sohlen umhergehen und seinen Fall mit leiser, professioneller Stimme erörtern. Es fällt mir schwer, dieses Bild mit dem Graham, den ich kenne, in Einklang zu bringen.
    »Es tut mir Leid«, sage ich. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch etwas zu erledigen habe.« Ich stehe abrupt auf und gehe, damit er mich nicht weinen sieht.
    »Warte«, ruft er, doch ich gehe weiter. Mitleid wäre das Letzte, was er von mir wollen würde.
    Manchmal wünschte ich mir, ich wäre Dave ähnlicher. Er wüsste genau, wie man mit solchen Situationen umgeht. Er würde keine Träne vergießen. Er würde seine Gefühle nicht verbergen müssen, weil er keine hätte. »Aha«, würde er sagen. »Und welche Symptome haben Sie? Tut das hier weh?«
    Ich wandere ziellos auf dem Schiff umher und finde mich vor unserer Kabine wieder, ich lausche, das Ohr an der Tür, habe Angst davor, was ich hören könnte. Nichts. Ich drehe den Knauf und betrete auf Zehenspitzen den Raum. In der Dunkelheit spitze ich

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