Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
teile, merke ich, dass sich der Geruch nicht verflüchtigt hat, weil es sich um meinen eigenen handelt, eine Erinnerung an den sexuellen Akt, der meiner feuchten Haut anhaftet.
14
Ungefähr ein Jahr nachdem Dave und ich geheiratet hatten, verbrachten meine Eltern im Sommer eine Woche bei uns in New York City. Am letzten Tag besuchte ich mit ihnen das Empire State Building, in dem ich damals arbeitete. Ich war Rezeptionistin in einer Kinderbeklei dungsfirma, die ihr Büro im 72. Stock hatte. Meinen Eltern schien es zu gefallen, dass einer der Fahrstuhlführer meinen Namen kannte. Sie waren noch mehr beeindruckt, als ich meinen Ausweis vorzeigte und an die Spitze einer langen Schlange von Touristen vorrücken durfte, die darauf wartete, ins Observatorium hinaufzugelangen.
Auf der Aussichtsplattform im 86. Stock hielten sich meine Eltern krampfhaft an den Gitterstäben fest und blickten auf die Stadt hinaus. Sie hatten meine Liebe zu Manhattan nie verstanden, hatten nie begriffen, warum ich ausgerechnet hier leben wollte. Mir war daran gelegen, dass sie New York mit meinen Augen sahen: die gigantische Matrix der Gebäude, die sich tief unter uns erstreckte; die Dächer, die ein Schwindel erregendes Muster aus Quadraten und Rechtecken bildeten, die Morgensonne spiegelnd; der glänzende silberne Helm des Chrysler Building; die Mammuttürme des World Trade Center; der nicht abreißende Strom gelber Taxis, der tief unter uns durch das ausgeklügelte Netzwerk der Straßen kroch. Vor allem wollte ich sie allerdings damit beeindrucken, dass ich mich jeden Tag aufs Neue im Labyrinth dieser Stadt zurechtfand.
Mein Vater machte ein Foto von mir und meiner Mutter, Arm in Arm, mit dem braunen Hudson im Hinter grund. Dann fotografierte ich die beiden, wobei mein Vater hinter meiner Mutter Aufstellung nahm, die Arme um ihre Schultern gelegt, und beide lächelten. Ich wusste, die Aufnahme glich haargenau den ungezählten anderen Bildern, die ich im Lauf der Jahre während der Familienurlaube von ihnen gemacht hatte. Der einzige Unterschied war die wechselnde Kulisse.
Bevor wir gingen, steckten wir eine Münze in den Schlitz eines großen stählernen Verkaufsautomaten, zogen den Hebel und entnahmen ein flaches, ovales Kupferbild vom Empire State Building. Auf dem Weg nach unten teilten wir den Fahrstuhl mit einer Familie aus Missoula, Montana. »Woher kommen Sie?«, erkundigte sich die Frau.
Meine Eltern antworteten beide gleichzeitig. »Mobile, Alabama«, sagte meine Mutter, während mein Vater herausplatzte: »Austin.«
»Austin ist schön«, sagte die Frau. Ich war sprachlos. Mein Vater und meine Mutter sahen mich an, warteten darauf, dass die versteckte Botschaft bei mir ankam. Die Frau erzählte langatmig, wie sie einmal ein Konzert von Mac Davis in Austin besucht hatte. In der Zwischenzeit versuchte ich, die Neuigkeit zu verdauen. Meine Eltern lebten offenbar getrennt. Ein schuldbewusstes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht meines Vaters aus, dann begann er zu kichern. Er blickte verlegen zu Boden, konnte jedoch nicht aufhören.
»Was ist daran so komisch?«, sagte der Ehemann der Frau. »Habe ich etwas verpasst?«
Mein Dad wurde rot. Er schlug die Hand vor den Mund und blickte starr in die Ecke, versuchte, seine seltsame, unpassende Reaktion zu unterdrücken. Doch es gelang ihm nicht, ebenso wenig wie vor einigen Jahren, als wir erfuhren, dass seine Schwester an Krebs erkrankt war. Er lachte und lachte, während sich meine Mutter wortlos in eine Ecke zurückzog. Sie konnte mir nicht in die Augen sehen. Die Frau legte schützend beide Arme um ihre Kinder, die meinen Vater anstarrten, als hätte er den Verstand verloren. Als wir endlich das Erdgeschoss erreichten und die Türen aufgingen, schob das Paar aus Missoula seine Söhne eilends aus dem Fahrstuhl.
Inzwischen lachte mein Vater so heftig, dass er kaum Luft bekam. Wir drei traten aus dem Fahrstuhl und schlossen uns einer Gruppe von Männern und Frauen in Hosenanzügen an. Sobald wir draußen waren, umklammerte meine Mutter krampfhaft ihre Handtasche, drückte sie an ihre Seite und tat, als sei nichts geschehen. Das Gelächter meines Vaters verstummte. Sein Gesicht war gerötet. Er warf einen Blick auf seine Uhr und steckte die Hände in die Taschen. Wir gingen weiter.
»Also? Ich höre.«
»Wir wollten es dir sagen«, erwiderte meine Mutter.
»Wann?«
»Bald.«
»Habt ihr vor, euch scheiden zu lassen?«
»Nein«, sagte mein Vater, nach Luft ringend. »Nur
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