Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
eine Trennung auf Zeit.«
»Eine Trennung mit viel Raum dazwischen. Das klingt ernst.«
»Es ist ein Experiment«, sagte er. Er hielt am Karren eines Straßenverkäufers und erstand drei Brezeln. Wir aßen sie schweigend, dann bahnten wir uns einen Weg durch die Menschenmenge und gingen zur U-Bahn-Station hinunter.
Während mein Vater Tokens kaufte – die Metallmar ken, die als Fahrausweis dienen –, fragte ich meine Mutter: »Und was war letzte Nacht?« In der vergangenen Nacht hatten die beiden auf einer Luftmatratze in meinem Wohnzimmer kampiert. Ich hatte gehört, wie sie miteinander geschlafen hatten, da war dieses verräterische Pfeifen der Luft, die durch das winzige Loch in der Matratze entwich.
Sie zwirbelte den Anhänger, den sie um den Hals trug, und biss sich auf die Lippe. »Ein Unfall. Ein schwacher Moment.«
Jahre zuvor, nach einer kurzen Affäre zwischen meinem Vater und einer Frau, die eine Tierhandlung betrieb, hatte meine Mutter gesagt: »Mag sein, dass man nach so einem Schlag zusammenbleibt, doch man erholt sich nie wieder vollständig davon.« Im Laufe der Jahre war ihre Verbitterung gewachsen, während mein Vater immer stiller wurde. Als ich von ihrer Trennung erfuhr, war ich also nicht wirklich überrascht.
Während wir auf die Linie N warteten, sprach niemand ein Wort. Ich war traurig, noch stärker war jedoch das Gefühl der Genugtuung. Zum ersten Mal in meinem Leben glaubte ich etwas zu verstehen, wovon meine Eltern keine Ahnung hatten. Die Ehe erschien mir damals wie ein Kinderspiel und ich konnte nicht umhin, meine Eltern als Versager zu betrachten. Ich listete mental alle Fehler auf, die sie gemacht hatten, ich war mir sicher, dass ich davor gefeit sein würde.
Während ich nun alleine den leeren Gang entlanggehe, noch wund von der Nacht mit Graham auf dem Boden der Racketball-Halle, habe ich das Bedürfnis, meine Eltern anzurufen und Abbitte zu leisten, weil ich so selbstgefällig gewesen war, weil ich die Ehe als eine leicht zu bewältigende Herausforderung abgetan hatte. Ich stelle mir meine Mutter vor, die lachend eine Zeile aus einem Countrysong zitiert, der davon handelt, dass selbst die größte Liebe in die Brüche gehen kann.
15
Ich gelobe, Dave alles zu erzählen, frage mich aller dings, ob es ihn überhaupt interessiert. Als ich die Kabine betrete, ist sie leer, das Bett ungemacht. Ich dusche und ziehe mich um, lege mir in Gedanken meine Beichte zurecht. In dem kleinen Badezimmerspiegel sehe ich eine Frau, die ich kaum wiedererkenne – die Ringe unter meinen Augen werden immer dunkler nach so vielen Nächten ohne richtigen Schlaf, meine Haare sind spröde von dem harten Wasser auf dem Schiff, meine Haut wirkt fahl von der Luftverschmutzung, der sie in den chinesischen Großstädten ausgesetzt ist.
Im Speisesaal geselle ich mich zu Dave, der am Obstbüffet steht und gerade zwei Teller füllt. »Hungrig?«
»Einer ist für Stacy. Es geht ihr nicht gut. Ich dachte, ich spiele mal den Kavalier.« Er ist frisch geduscht, sein dichtes Haar noch nass, seine Haut glüht. Er strotzt vor Gesundheit. Er spießt zwei saftige Wassermelonenstücke auf. Sie gleiten von der Gabel auf den Teller, den er für Stacy bereithält. Er fragt mich nicht einmal, wo ich letzte Nacht war. Er denkt sich vermutlich, ich sei spät zu Bett gegangen und früh aufgestanden, und er hätte beides verschlafen.
Stacy sitzt bereits am Tisch und wartet. Sie sieht müde, jedoch rundum zufrieden aus. »Guten Morgen«, begrüßt sie mich.
»Alles in Ordnung?«
»Nicht ganz, doch bei Dave bin ich ja in den besten Händen.«
Dave errötet und stellt ihr den Teller hin. Sie leert ihr Wasserglas in einem Zug. Dann trinkt sie aus Daves Glas. Er wirft ihr einen raschen Blick zu, dann setzt sie das Glas ab und lächelt mich an. »Tut mir Leid. Ich bin so durstig, dass ich glatt aus dem Fluss trinken könnte.«
Dave isst zwei Scheiben Toast und liest die Schlagzeilen in The China Daily. An seinem Hals befindet sich ein kleiner blauer Fleck, direkt unter dem Ohrläppchen. Seine Unterlippe ist leicht geschwollen.
Er ertappt mich dabei, wie ich ihn anstarre. »Stimmt was nicht?«
»Nein, alles in Ordnung.« Ich beuge mich vor und berühre seine wunde Lippe. »Hast du dich verletzt?« Die kleine Geste kommt mir überraschend natürlich vor, zeugt von einer Vertrautheit im wechselseitigen Umgang, die ich trotz allem als aufrichtig empfinde. Als Dave seine Wange an meine Hand schmiegt, steigt eine Welle der
Weitere Kostenlose Bücher