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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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mich nach draußen, in das warme Licht der Dezembersonne. Es war Spätnachmittag. Er schloss die Autotür auf und verstaute mich auf dem Sitz – ich hatte meinen Körper nicht mehr in der Gewalt, er kümmerte sich um alles. Der Wagen sprang an und er fuhr los, eine Hand auf meinem Bein, während er lenkte, keiner von uns beiden sprach, im Radio spielten Oldies, Smokey Robinson sang eine Schnulze, Tracks of my Tears . Binnen einer halben Stunde hatten wir die Küste erreicht. Die Fensterscheiben waren heruntergekurbelt, es roch nach Salz und Eiche und sonntäglichen Grillfesten, nur ein Hauch Kälte lag in der Luft, alles war sauber und frisch, der Himmel wolkenlos und das Meer schien sich kaum zu bewegen, mehr weiß als blau im Sonnenlicht. Dave hielt am öffentlichen Strand, dann kam er um das Auto herum auf die Beifahrerseite, öffnete die Tür und half mir beim Aussteigen. Er nahm meine Hand und führte mich zu den Sanddünen, an den Strandduschen vorbei, zum Wasser hinunter.
    Von der Straße aus hatten die Wellen läppisch gewirkt, doch aus der Nähe betrachtet sah ich, dass der Ozean schäumte, hörte das Tosen der Brandung, die sich im Sand verlief. Gelbe Warnschilder waren aufgestellt, warnten die Strandgänger vor der gefährlichen Strömung, der Ripptide. An diesem entlegenen Strandabschnitt gab es keine Rettungswacht, sondern nur Schilder: Warnung! Starke Unterströmung. Baden auf eigene Gefahr. Da war das Geräusch der Wellen, die sich überschlugen, und das Knistern der Schaumkronen, als sich ihre Kraft erschöpfte, das Geräusch von Autos, die vorüberfuhren, ein Motorrad, das mit voller Geschwindigkeit die zweispurige Fahrbahn entlangröhrte, und der Schaum, der in alle Himmelsrichtungen zerstob, gefolgt von der nächsten Welle. In der Ferne ein weißes Segel. Beerentang, im Sand verstreut, eine Qualle, an Land gespült, verendend. Dave kniete sich vor mich hin und band mir die Schnürsenkel auf. Er streifte mir die Schuhe von den Füßen, zog mir die Strümpfe aus und rollte meine Hosenbeine hoch, weit über die Knöchel.
    In dem Moment erinnerte ich mich, wie Amanda Ruth in der Turnhalle vor mir kniete und meine Schnürsenkel aufband. Die Enden der Schuhbänder waren ausgefranst und hatten sich in den Ösen verheddert. Ihre Haare glänzten im Neonlicht, das von oben herabschien. Auf der anderen Seite der Halle spielten die Jungen »Abmurksen«. Der Abgemurkste war Roland: er trug ein blaues T-Shirt und lag ächzend auf dem Boden, während ich spürte, wie ihr Atem meine Knie, ihre Fingerspitzen meine Knöchel streiften.
    Dave zog seine Schuhe aus und wir marschierten los. Ich kam mir vor wie in Trance – es konnte nicht sein, dass ich eingedenk eines solchen Wissens in der Lage war, zu atmen, mich zu bewegen, den Strand entlangzugehen, dieses Wissen hatte nichts mit der Realität zu tun. Die Sonne brannte vom Himmel. Bei unserer Abreise hatte es in New York City geschneit, während es in Alabama für diese Jahreszeit zu warm war. Amanda Ruth hatte sich zu Weihnachten immer kaltes Wetter gewünscht. »Ich komme dich im Winter besuchen, während der Semesterferien«, hatte sie an unserem letzten gemeinsamen Abend im Bootshaus gesagt. »Vielleicht haben wir ja Schnee. Ich möchte den Weihnachtsbaum vor dem Rockefeller Center sehen.«
    Dave bückte sich und hob zwei Angel Wings auf, die mit der Brandung an den Strand gespült worden waren. Er hielt meine Hand auf und legte sie mit einer Hand voll Sand hinein. Die Schalen schillerten gelb und rosa und blau und die winzigen Kreaturen, die über die paar Sandkörner hinaus keine Perspektive hatten, gruben unentwegt weiter, gruben sich durch den nassen Sand zu meiner Handfläche vor. Ich spürte den federleichten Druck, das Kitzeln der gummiartigen Tentakeln auf meiner Haut. Ich legte den Sandklumpen ins Wasser zurück und spülte meine Hände ab.
    »Baby«, sagte er zu mir, zum ersten Mal. Das einzige Wort, das bis zu mir vordrang, das Wort, das mich umfangen hielt, bewirkte, dass ich unversehrt blieb. Woran ich mich am besten erinnere, ist das Gefühl der Auflösung, ein schrittweises Erlöschen, das in der Brust begann, das Gefühl des Verfalls. Doch Dave war bei mir, breitschultrig, groß, ein Fels in der Brandung. Er zog mich an sich und hielt mich umschlungen, sein Körper und seine Stimme ein schützender Kokon. »Baby«, sagte er abermals.
    Wäre seine ruhige Gegenwart, der starke Halt seiner Arme nicht gewesen, hätte ich niemals dort am Strand

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