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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Ich stellte mir vor, wie das Blut durch sein weißes Hemd sickerte, den Ausdruck der Überraschung auf seinem Gesicht, die Hand, die er auf seine Brust presste, um die Blutung zum Stillstand zu bringen. Würde er in einem solchen Augenblick genauso praktisch und nüchtern denken wie sonst? Würde er versuchen, sich über die Tiefe der Wunde, den Einstichwinkel der Klinge klar zu werden und über die wahrscheinlichen Reaktionen und angeborenen Neigungen seines eigenen Herzens, das verzweifelt ums Überleben kämpfte? Würde er die Entfernung bis zur Klinik in Betracht ziehen, sie auf einem mentalen Kilometer zähler abspulen oder würde er einer Panik nahe sein, mit rasendem Herzen, das langsamer schlägt, sich rasselnd dem letzten Atemzug nähert?
    »Was ist mit Stacy?«, frage ich.
    »Sie ist gestern Abend aus der Koje gefallen und kam zu mir, weil sie Hilfe brauchte. Völlig harmlos.«
    »Du wirst ihr gut tun«, sage ich. Und das ist aufrichtig gemeint. Dave tut jedem gut. Gewiss sieht er in Stacy einen Menschen, der seine besten Eigenschaften zum Vorschein bringt – wieder eine Frau, die zu retten er sich berufen fühlt, wie er mich einst gerettet hat.

16
    Nancy Eliot trug Jeans und ein rotes T-Shirt und sie brachte nicht nur das Essen, sondern auch die Hiobsbotschaft. Es war nicht ganz ein Jahr seit unserem Abschluss an der Murphy Highschool in Mobile vergangen, doch meine Erinnerung an sie begann bereits zu verblassen. Mir war nur noch eines im Gedächtnis haften geblieben: Sie hatte den Vorsitz über den Debattierclub geführt und stets eine Unmenge Zahlen im Kopf. Jede ihrer Aussagen wurde von Statistiken, Fallbeispielen und einer langen bibliografischen Referenzliste belegt. Deshalb war sie absolut glaubhaft, deshalb konnte ich ihre Mitteilung nicht als Hörensagen oder üblen Scherz abtun, als boshaftes, an den Haaren herbeigezogenes Gerücht.
    Ich hatte Weihnachtsferien und Dave und ich saßen in einem Diner an der Canal Street in Mobile. Wir hatten uns kein einziges Mal geküsst, es gab nicht das leiseste Anzeichen einer sich anbahnenden Romanze. In New York City waren wir gute Freunde, verbrachten die Wochenenden miteinander und gingen ins Kino. Er war nach Pensacola geflogen, um seinen Bruder zu besuchen, und ich hatte ihn für ein paar Tage nach Mobile eingeladen, hatte ihm einen authentischen Hauch Südstaatenflair versprochen. Er schlief im Gästezimmer meines Elternhauses. Zwei Tage vorher hatten wir uns mit Amanda Ruth und Allison, ihrer neuen Freundin, im The Mariner zum Essen getroffen. Zwei Tage vorher hatte ich gedacht, das ist nicht meine Amanda Ruth, die Amanda Ruth, die unser Geheimnis bewahrte, der niemals eingefallen wäre, in aller Öffentlichkeit Händchen zu halten. »Was hat sie mit dir gemacht?«, hätte ich am liebsten gefragt, auf Allison mit ihrem militärisch kurzen Haarschnitt, den ausgebeulten Jeans und ihrer unmissverständlichen Art anspielend. Ich war entrüstet, als ich erfuhr, dass sie das Wochenende in dem Haus am Fluss verbracht hatten. Ich malte mir aus, wie sie auf unserem Steg gesessen, Garnelen auf unserem Grill zubereitet und sich auf unserer alten Matratze geliebt hatten.
    »Hast du Mr. Lee kennen gelernt?«, fragte ich Allison, während wir auf das Essen warteten. Was ich damit meinte, war: Hat er Lunte gerochen ?
    Amanda Ruth und Allison sahen sich an, als teilten sie ein Geheimnis miteinander, eine Ebene der Realität, von der ich ausgeschlossen war. »Gewissermaßen«, erwiderte Allison.
    »Keine besonders erfreuliche Begegnung«, gestand Amanda Ruth. »Vor ein paar Wochen rief ich zu Hause an, um Mom und Dad mitzuteilen, dass ich in den Weih nachtsferien jemanden mitbringen würde. Ich wollte lieber warten, bis wir dort waren, um ihnen reinen Wein einzuschenken. Als Dad von der Arbeit kam, standen Allison und ich gerade mit Mom in der Küche. Sie tat so, als sei das kein Drama, doch ich sah, dass sie entgeistert war. Dad wollte wissen, wo mein Freund sei. Er hatte geplant, mit dem jungen Mann, wie er meinte, Hochseefischen zu gehen. Er hatte ein Boot gechartert und sogar eine Angelrute für seinen Schwiegersohn in spe gekauft. Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen, als ich ihm eröffnete, dass es Allison war, die er kennen lernen sollte.«
    »Mutig«, sagte ich. »Allerdings ganz schön riskant.«
    Dave spießte einen frittierten Maiskuchen, ein typisches Südstaatengericht, auf seine Gabel. »Wie hat dein Dad reagiert?«
    »Er murmelte etwas in der Art, er

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