Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
Vom Netzwerk:
stehen, einen Fuß vor den anderen setzen, sprechen, essen oder den Nachmittag über die Runden bringen können.
    »Erzähl mir was«, sagte ich. Dave verstand auf Anhieb meinen Wunsch, in die Welt der Fakten, der Wissenschaft und der Gewissheit einzutauchen, ein Gebiet, auf dem er sich gut auskannte. Er musste nur entscheiden, welche Fakten er mir an die Hand geben sollte, mit welcher Methode er mich zu ihm zurückholen könnte. Wir gingen einige Minuten schweigend nebeneinander her. »Schau«, sagte er schließlich und bückte sich, um eine große Muschel mit spiralförmigen Rillen aufzuheben. Er hielt sie an mein Ohr. Das Meeresrauschen drang in meinen Kopf ein. »Ich werde dir etwas über Schallwellen erzählen«, sagte er.
    »Okay.« Jetzt hatten wir ein Thema, etwas Greifbares. Mein einziges Ziel bestand darin, aufmerksam zuzuhören.
    »Die Schallwellen dringen durch die Ohrmuschel, die sie sammelt und an den äußeren Gehörgang weiterleitet, in unser Ohr. Sie versetzen das Trommelfell in Schwingung.« In einem Ohr das hohl klingende Meeresrauschen der Muschel. Im anderen Daves Stimme, klar und monoton, die mir sagt, es sei nicht das Meer, das man in dieser Muschel rauschen hört, sondern lediglich Schwingungen, um ein Vielfaches verstärkt. Auf diese Weise lüftete er das Geheimnis der Meeresmuschel, verwandelte einen Mythos in eine hieb- und stichfeste Tatsache, führte mich aus der Dunkelheit, zu ihm zurück.
    Wir blieben am Strand, bis es dunkelte, gingen spazieren, standen schweigend da, saßen in den Schatten, die Mondlicht und Dünen schufen. Während der Heimfahrt sagte er: »Möchtest du zum Fluss?«
    »Okay.« Ich hörte meine Stimme im geschlossenen, geschützten Raum des Wagens. Die Fensterscheiben waren hochgekurbelt, die Klimaanlage lief. Wir waren die Einzigen, die auf der dunklen Landstraße unterwegs waren. Neben der Straße Pfahlbauten, Dünen, die Dunkelheit des Strandes.
    Die kurze Strecke zum Fluss schien Stunden zu dauern. Als wir zu Amanda Ruths Haus kamen, fragte er: »Möchtest du alleine sein?«
    Er blieb im Wagen sitzen, während ich durch den Garten, zum Steg und zum Bootshaus hinunterging. Ich verbrachte über eine Stunde auf der alten Matratze im Grillraum, in dem Amanda Ruth und ich in der Woche vor ihrer Abreise nach Montevallo übernachtet hatten. Irgendwann schlief ich ein. Ich träumte von ihr. Als ich aufwachte, drehte ich mich um und erwartete, sie neben mir zu finden. Ich wusste, dass ich träumte, und Nancys Worte kamen mir ebenfalls wie ein Traum vor, auch mein Strandspaziergang mit Dave war ein Traum gewesen. Ich würde an ihrer Seite wachen und sie würde aus dem Schlaf hochschrecken, zerzaust und verwirrt wie immer. Doch als ich mich umdrehte, war da nichts, nur ein klammes Kopfkissen ohne Bezug, eine modrige Decke. Ich öffnete meine Augen und blickte aus dem Fenster. Der Fluss glitt gemächlich vorüber, tiefschwarz und warm im Mond licht. Im Halbdunkel konnte ich die Umrisse vertrauter Gegenstände erkennen. Amanda Ruths Sonnenbrille auf der Metallkiste neben dem Herd. Ihre Flipflops neben der Tür, aufs Geratewohl von den Füßen geschleudert. Ich trat auf den Steg hinaus und hielt Ausschau nach ihr. Nichts. Ich war alleine. Ich war einer Panik nahe. Ich ging wieder hinein, hoffte noch, glaubte immer noch an die Möglichkeit, dass ich alles nur geträumt hatte, dass Amanda Ruth nicht umgebracht worden war, dass sie im Boot saß und auf mich wartete, in dem Wissen, dass ich sie auch im Dunkeln finden würde, dass ich im Halbschlaf zu ihr kommen und mit meinen Lippen ihre Schultern, ihr Haar berühren würde.
    Der Wasserstand in unserem blauen Raum war niedrig. Das Boot wurde hin und her geworfen und stieß überall an. Einen Moment lang war ich glücklich, redete mir ein, das Geräusch stamme von Amanda Ruth, die sich unter Deck aufhielt, mit den Knöcheln gegen die Fiberglaswände hämmerte und mich rief. Ich stieg ins Boot und wich den beiden Angelruten aus, die auf dem schlüpfrigen Boden lagen, die Rollen zum Auswerfen der Schnur nicht ganz bis zum Anschlag zurückgedreht, die Leinen schlaff. Ich ging in die Kajüte hinunter, die modrig und klamm war, meine Finger fanden den Lichtschalter. Da waren die beiden langen Sitzkissen, die im Bug zusammentrafen und ein V bildeten, dort lagen wir oft, Kopf an Kopf, und unterhielten uns. Da war der kleine Herd, die Nasszelle mit der niedrigen, wackeligen Toilette, die Türschwelle, auf der man sich tief ducken musste, um

Weitere Kostenlose Bücher