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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Jugend erinnert: sie schmeckt wie Tang , ein viel zu süßes grob körniges Pulver, das mit Wasser aufgegossen wurde. Dave sitzt auf der engen Bank zwischen Stacy und mir. Ihre Anwesenheit ärgert mich nicht mehr. In gewisser Hinsicht macht sie mir die Bürde des schlechten Gewissens erträglicher, erleichtert es mir, meinen Weg mit Graham zu gehen. Trotz der Dinge, die sie durchgemacht hat – Schwangerschaft, Drogensucht –, hat sie etwas Hoffnungsvolles, das mir seit vielen Jahren abhanden gekommen ist. Vor Amanda Ruths Ermordung fühlte ich mich in jeder Hinsicht meinem Alter entsprechend: achtzehn. Die Welt kam mir wie ein fremder Planet vor, den es zu entdecken galt, es war leicht, zu hoffen und zu träumen. Doch irgendetwas starb in dem Moment in mir, als ich erfuhr, dass sie tot war. Mir schien es nichts mehr zu entdecken zu geben. Noch Jahre später hatte ich das Gefühl, der große prägende Augenblick in meinem Leben sei bereits vorüber und kein noch so dramatisches Ereignis könne mich mehr aus der Bahn werfen. Alles, was danach geschehen war, mutete wie eine verspätete Pointe an, geliefert lange nach Beendigung des Witzes. Ich verbrachte mein ganzes Erwachsenenleben mit dem Gefühl, den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben.
    Wir verlassen das geschäftige Stadtzentrum und fahren eine idyllische Landstraße entlang. Der Bus hält an. »Alle hinaus!«, ruft Elvis Paris.
    Die Türen gehen auf und wir steigen aus. Irgendetwas kommt mir unheimlich vor, unheilvoll, und dann wird mir klar, was meine Aufmerksamkeit geweckt hat: das Fehlen jedweden Geräusches. Es ist das erste Mal, dass ich in diesem Land einer absoluten Stille begegne. Sogar un sere Reisegruppe ist verstummt, als wären wir in eine Falle gelaufen oder befänden uns an einer geweihten Stätte. Die Straßen, die ohne die allgegenwärtigen fliegenden Händler und Fahrräder leer und verwaist sind, muten wie in einer Geisterstadt an. Ich fühle mich an Destiny erinnert, eine kleine Insel vor der Küste von Georgia, die für die Öffentlichkeit gesperrt ist und nur mit dem Boot erreicht werden kann. In den siebziger Jahren war sie ein Marinestützpunkt, auf dem sechstausend Menschen lebten und arbeiteten. In Folge eines Lecks, bei dem Radio aktivität freigesetzt wurde, wurden alle Bewohner an einem einzigen Nachmittag evakuiert. 1988, während mei nes ersten Jahres an der Highschool, fuhr ich mit einem jungen Mann, dessen Vater darüber wachte, dass die Insel unbesiedelt blieb, dorthin. Dieser Posten erforderte, dass er auf der radioaktiv verseuchten Insel wohnte, in einem kleinen Holzhaus am Strand. Wir fuhren mit einem Motorboot von Briar Island nach Destiny und verbrachten dort mehrere Stunden, schlenderten durch die menschenleeren Straßen. Die Türen der Geschäfte standen offen, Spielzeug rostete in den Zufahrten vor sich hin und hinter den Fenstern der weißen Häuser, die sich wie ein Ei dem anderen glichen, sah man die übliche Ausstattung eines ganz normalen Lebens, das abrupt zum Stillstand gekommen war. Gedecke, ordentlich zum Abendessen aufgelegt, siechten unter einer dicken Staubschicht dahin. Blockhütten zum Selberbauen, im Stil von Lincolns Elternhaus, standen unvollendet auf den Fußböden der Kinderzimmer. Zeitungen waren auf den Armlehnen mottenzerfressener Schaukelstühle ausgebreitet. Der junge Mann erzählte mir, dass es keine Toten gegeben habe, dass die Evakuierung problemlos vonstatten gegangen und niemand zu Schaden gekommen sei, doch ich spürte dennoch die Anwesenheit von sechstausend Geistern, deren Atem durch die dünnen Wände der leer stehenden Häuser drang.
    »Jenny?« Dave berührt meinen Ellenbogen. »Alles in Ordnung?«
    Ich nicke stumm, danke ihm mit einem Blick. Mir geht der Gedanke durch den Sinn, dass er vielleicht nur das braucht – eine kaum merkliche Andeutung von mir, dass ich nicht mehr weiterweiß, dass ich es ohne ihn nicht schaffe. Wenn ich ihm das geben kann, würde er vielleicht zu mir zurückkommen, nicht nur jetzt, sondern für immer.
    Die Stille ist beunruhigend, doch nach ein paar Minuten hört man einen gedämpften Laut, der sich vom anderen Ende der schmalen Straße nähert – der schwache Laut von tappenden Schritten, begleitet von stetigen, leisen Trommelschlägen. Der Nebel ist so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sieht. Die Trommeln werden lauter, genau wie das Trappeln der Füße, das sich von einem Wispern zu einem Rascheln steigert. In weiße Umhänge gehüllte Gestalten

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