Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Jurte.«
Die durchnässte Touristenmeute bricht in Jubelrufe aus. Niemand scheint die Echtheit dieser Erfahrung in Frage zu stellen. Wir sind mehrere tausend Meilen von der Mongolei entfernt. Hier gibt es keine Jurten. Doch das ist »China Light« und niemand protestiert. Der Bus stottert, furzt Abgase in die Luft und alle steigen ein. Dave wartet, um mir den Vortritt zu lassen.
»Geh nur«, sage ich. »Ich möchte die Nacht in Yueyang verbringen.«
»Komm lieber mit, bitte.« Die Aufrichtigkeit seiner Einladung rührt mich, diese neue Ritterlichkeit mir gegenüber, doch ich will alleine sein.
Elvis Paris hat mitgehört. »Unmöglich«, sagt er und tritt zwischen uns. »Keine Ausländerhotel in Yueyang.«
»Macht nichts. Ich könnte ohnehin kein Auge zutun. Ich gehe einfach spazieren.«
»Das nicht gehen.«
»Warum?«
Einen Moment lang ist er verdattert, doch dann fällt ihm ein Grund ein. »Ist zu dunkel! Sie können nicht sehen! Sie fallen und Arm brechen.« Er mustert meinen Arm mit solcher Besorgnis, als sei er bereits gebrochen.
»Danke, doch ich habe mich bereits entschieden.«
»Ist nicht gut. Sie haben Problem mit lokale Behörden. Nicht normal für ausländische Frau, alleine spazieren gehen in Nacht.« Jetzt sehe ich, dass er aufrichtig besorgt ist, wenn schon nicht um mich, so doch um die Konsequenzen, die sich daraus für ihn ergeben könnten.
»Ich werde kein Sterbenswort verlauten lassen. Wenn die Behörden mich ausquetschen, werde ich nicht verraten, dass ich zum Schiff gehöre.«
Er scheint erleichtert zu sein, was ihn allerdings nicht darin hindert, weitere zehn Minuten mit mir zu debattieren. Die Leute im Bus werden unruhig und Elvis merkt, dass er mich nicht zu einem Sinneswandel bewegen kann. »Ist sehr seltsam«, sagt er, auf der Türschwelle des Busses stehend. »Keine amerikanische Frau jemals gemacht. Sie kommen mit uns. Mongolische Tänze sehr schön.«
Doch der Fahrer hat die Nase voll und der Bus fährt, Schlamm hinter sich aufwirbelnd, los. Die Abenddämmerung senkt sich auf Yueyang herab. An den Tischen im Freien reden und lachen die Leute, sie sehen mir nach. Ich biege in die dunkelste Gasse ein, die ich finde, weg von den forschenden Blicken der vielen Zuschauer. Das bläuliche Licht winziger Fernsehgeräte flackert hinter den Fenstern der Bambushütten und hutongs, Jahrhunderte alte Häuser aus Natur- und Ziegelstein. Ich kann durch die engen Türöffnungen hindurch in die Innenhöfe blicken. In einem badet ein junges Mädchen in einer Zinkwanne bei Kerzenlicht. Ihre nassen Haare wallen über den Rand der Wanne und berühren den Boden. Neben ihr döst eine alte Frau. In einem anderen Innenhof beugt sich eine Frau mit ebenmäßiger Gestalt über eine Waschschüssel und putzt sich die Zähne. Aus einem verborgenen Zimmer dringen vertraute Geräusche zu mir herüber – zwei Menschen, die sich lieben.
Den ganzen Abend wandere ich umher. Schließlich begibt sich das Dorf zur Ruhe. Irgendwann finde ich mich auf dem Hang eines Hügels wieder, gehe zwischen den terrassenförmigen Stufen eines frisch abgeernteten Reisfeldes entlang. Ich ziehe meine Schuhe aus und spüre den kühlen Schlamm zwischen meinen Zehen. Er reicht mir bis zu den Knöcheln und erzeugt beim Gehen einen saugenden Laut, der mir gefällt. Die Felder wirken grün und feucht im Mondschein. Ich erinnere mich an meine Kindheit, an die Abende, an denen ich in einem fremden Garten an der Epson Down Street erwachte. Wenn ich an mir herunterblickte, sah ich, dass ich mein gelbes Nachthemd trug, und wusste, dass ich geschlafwandelt war. In der nächtlichen Stille, die in der Vorstadt herrschte, verspürte ich einen vertrauten Anflug von Panik. Der Chlorgeruch, der den Swimmingpools der Nachbarn entströmte, verlieh der schwülen Sommerluft etwas Stechendes. Dann hörte ich mit einem Mal Hundegebell. In der Ferne, auf dem Highway, ratterten schwere Lkws vorbei. Grillen zirp ten, die Zweige der Eichen ächzten, die Filter der Swimmingpools summten – die Sommernacht erfüllte mich mit geheimer Sehnsucht und einer namenlosen Angst. Ich rannte nach Hause, überzeugt, dass meine nackten Füße verräterische Spuren auf den Rasenflächen der Nachbarn hinterlassen würden. Sie würden morgens aufwachen, hinausgehen, um die Zeitung zu holen, und meine Fußabdrücke auf dem makellosen Rasen entdecken. Ich war sicher, dass sie meine Eltern anrufen würden und ich Hausarrest bekäme, weil ich die Abkürzung durch die Gärten
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