Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
tauchen aus dem Nichts auf. Sie bewegen sich langsam, planvoll, die Säume ihrer langen Gewänder bauschen sich beim Gehen auf. Wenn die roten Stoffschuhe nicht wären, die unter den weißen Umhängen auftauchen und verschwinden, auftauchen und verschwinden, könnte man meinen, dass es sich nicht um Menschen, sondern um die Seelen von Verstorbenen handelt, dazu verdammt, auf immer durch die eisigen Straßen der stillen Stadt zu wandern. Sie nähern sich zielstrebig unserer Reisegruppe, die sich teilt, um sie passieren zu lassen. Offenbar sind wir unsichtbar für sie. Das Dröhnen der Trommeln wird immer wieder von einem anderen Laut untermalt, der nach und nach Gestalt annimmt – ein beunruhigendes Summen, als würden tausende unsichtbarer Fliegen zum Sturzflug ansetzen. Als sich die Prozession vorwärts bewegt, sehe ich, dass es keine Fliegen, sondern Grillen sind, die von jungen Mädchen in Bambuskäfigen getragen werden. Die Mädchen tragen hautenge rote Kleider und ehemals weiße Schuhe, die inzwischen die rostbraune Farbe der Landstraße angenommen haben. Einige halten bunte Papiergirlanden in den Händen. Alle sehen starr geradeaus, wie in Trance, der lange dunkle Zopf auf dem Rücken wippt leise bei jeder Bewegung.
Das Blitzlicht einer Kamera flammt auf, dann ein weiteres. Die Gestalten marschieren weiter, während das Dumm-Dumm-Dumm der Trommeln und das nervöse Zirpen der Grillen in die vom Nebel verborgenen Gefilde hinaufsteigen. Blitz, Klick, Summ. Ich stelle mir vor, dass nur eine kühle Blauschattierung zu sehen sein wird, wenn die Fotos entwickelt und die Videofilme in den Schlitz des Rekorders geschoben sind, und dass die kleine Gruppe von Touristen wie Geistesgestörte aussehen wird, die angestrengt ins Leere starren.
»Ist Beisetzung«, erklärt Elvis Paris über ein Megaphon und bricht den Bann. »Sie verbrennen Bildnisse, für schicken mit Verstorbene in Geisterwelt.«
Ich frage mich, wo die Leiche sein mag. Wurde sie bereits eingeäschert? Einige Männer und Frauen bilden die Nachhut, sie halten leere Blechdosen in den Händen. Sie nähern sich uns und bitten um Geld. » Guanxi für Geister«, erklärt Elvis Paris. Als der Leichenzug am anderen Ende der schmalen Straße im wirbelnden Nebel verschwindet, sehe ich Elvis Paris mit einem der Blechdosen-Träger feilschen. Er nimmt ein paar Geldscheine aus der Dose, dann kehrt er lächelnd zu uns zurück. »Nächstes wir sehen Turm über Dongquing-See«, sagt er. »Viel schöne Kalligraphie dort.«
Erst dann kommt mir, dass niemand gestorben ist. Der Leichenzug war für die Touristen arrangiert. Wir wurden zum Narren gehalten. Ich bin offenbar nicht in China, sondern in einer Vergnügungspark-Version des Reichs der Mitte gelandet. Der Werberummel, der um den Drei-Schluchten-Damm veranstaltet wird, hat zur Folge, dass die Touristen in nie da gewesener Zahl ins Land strömen, um die Schluchten zu sehen, bevor sie in ihrer jetzigen Form verschwinden. In Folge der Devisenmengen, die mit den ausländischen Besuchern ins Land gelangen, haben sich viele Städte und Dörfer im Dunstkreis des Flusses in Bühnen verwandelt, auf denen farbenprächtige Ko mödien aufgeführt werden. Doch ich weiß, dass sich hinter der Kulisse das richtige, lebendige China verbirgt. Für jeden inszenierten Leichenzug ohne Leiche, ohne Beisetzung und ohne trauernde Hinterbliebene, deren Pflicht es ist, einem Angehörigen den Weg in die Unterwelt zu ebnen, findet mit Sicherheit ein echtes Leichenbegängnis statt, sobald die Touristen weg und die Kreuzfahrtschiffe abgefahren sind. Mit Sicherheit ertönt hinter den schwa chen Akkorden für die Touristenbranche eine uralte kraft volle Weise voller Harmonie: Geburten, Todesfälle, Heiraten, Freude, Krankheit, Eifersucht, Begehren – all die chaotischen Dinge, die zum Leben des Menschen gehören, einschließlich Ehebruch und Schmutzige-Wäsche-Waschen, die einem Videofilm über die heile Welt nicht dienlich sind. Ich sehne mich danach, das China aus Fleisch und Blut ken nen zu lernen, das verborgene innere Leben. Ich schulde es Amanda Ruth, hinter den Vorhang zu schlüpfen, meinen eigenen Weg zu gehen, die Requisiten und Scheinwerfer hinter mir zu lassen, um herauszufinden, wie es hinter den Kulissen aussieht.
Später, nach einem mit Einkaufen und Essen angefüllten Tag, fängt Elvis Paris die Herde wieder ein und erklärt via Megaphon: »Wir nehmen Bus für traditionelle mongolische Tanz! Wir schlafen heute in traditionelle
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