Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
erinnert, wie er dich in dem roten Stuhl am Fenster zu schaukeln pflegte, das Gesicht heiter und gelöst. Meine kleine Tochter nannte er dich damals. Er war so stolz wie ein frisch gebackener Vater nur sein kann, zeigte dich jedem, der bereit war, einen Blick auf dich zu werfen. Er konnte das Glück nicht fassen, dieses kleine Lebewesen in die Welt gesetzt zu haben. Als sich der Schal ein zweites Mal um deinen Hals schlang, sahst du vielleicht den Papa deiner frühesten Kindheit in ihm, der dir nichts abschlagen konnte, der in dem kleinen Hof hinter dem Haus Himmel-und-Hölle oder Seilspringen mit dir spielte. Erst als sich der Schal langsam zuzog, musst du dich an etwas anderes erinnert haben – an den Mann, der den Grill im Bootshaus umwarf, das Gesicht verzerrt vor Wut.
Die Szene spult sich wieder und wieder in meinem Kopf ab, mit endlosen Variationen. In einer keuchst du, zerrst an dem Schal um deinen Hals und rufst: »Aufhören!« Doch er hört nicht auf. Ich versuche, mich in dich hineinzuversetzen, in dem Augenblick, als du erkanntest, dass er nicht loslassen würde. Nach Luft ringend, dachtest du vielleicht an einen kühlen Abend im November zurück, als du in der Küche eine Aussprache mit ihm suchtest. »Es ist ganz natürlich für ein Mädchen, ein Mädchen zu lie ben«, sagtest du. »Es ist krank!«, brüllte er und schlug dich so heftig ins Gesicht, dass du wochenlang einen blauen Fleck hattest. Während der Mittagspause unter der großen Eiche in der Schule musste ich dich ein Dutzend Mal fragen, Tag für Tag, bevor du endlich zugabst, woher die Verletzung wirklich stammte.
Als er sich so eng zusammenzog, dass er dir die Luft abschnürte, flehtest du ihn gewiss stumm, mit deinen Blicken an.
Ich stelle mir vor, wie er sich über dich beugt, rasend vor Zorn. Ein Bild hat sich klar in sein Gedächtnis eingebrann t – das Bild von dir und Allison, nackt in deinem Zimmer, seine einzige Tochter vom Teufel besessen. Es ist dieses Bild, das ihm die Stärke verleiht, dich auf den Boden zu drücken und taub für dein Flehen den Schal zu verknoten. Doch als du zu röcheln beginnst, die Augen vor Entsetzen verdreht, verwandelt sich die Wut in Angst, dann in Mitleid und zum Schluss in Panik. Er versucht fieberhaft, den Knoten zu lösen. Doch seine Finger sind nicht schnell genug, der Knoten ist zu fest – und das war es doch, was er wollte, oder, die Möglichkeit eines Rückziehers ausschließen? Er bricht in Tränen aus. »Amanda Ruth! Warte! Es tut mir Leid«, und er reißt mit den Zähnen an dem Knoten – daher die Spuren, die der Detective an deinem Hals fand, Bissspuren, hieß es, von menschlichen Schneidezähnen, von den Zähnen eines Menschen, der sich in Panik befand, der den Knoten zu lösen versuchte. Plötzlich hörst du auf, um Atem zu ringen, deine Augen brechen und er schaut sich verzweifelt nach etwas um, womit er den Schal abschneiden könnte, doch da ist nichts. Er sucht und sucht. Er hält dich in den Armen, wiegt dich, weint. Er weiß, es ist vorbei, du bist tot, er kann die Tat nicht ungeschehen machen.
Es bleibt keine Zeit zum Trauern, denn nun gewinnen praktische Erwägungen die Überhand. Seine Frau verbringt ein paar Tage bei ihrer Schwester in Montgomery. Nach jedem Streit läuft sie davon und kehrt erst wieder zurück, wenn sich die Wogen geglättet haben. Nach der Rückkehr tut sie, als sei nichts geschehen. Es ist nicht allein seine Schuld, denkt er, seine Frau hätte sich mehr um die Erziehung ihrer Tochter kümmern sollen. Sie hätte strenger sein sollen. Doch sie zog es vor, sich in die Scheinwelt ihrer Liebesromane, ihrer Kirche, ihrer beschämend billigen Ginflaschen zu flüchten, während es ihm überlassen blieb, für Disziplin und Ordnung zu sorgen.
Allison ist fort – er kann sich nicht einmal mehr erinnern, was er zu ihr sagte, nachdem er euch beide miteinander erwischt hat. Er wird bis zum Einbruch der Dunkelheit warten. Am späten Abend, als die Straßen menschenleer sind, fährt er den Wagen hinter das Haus und trägt dich hinein. Er lässt die Scheinwerfer ausgeschaltet, als er auf den verwaisten Seitenstraßen zur Rollschuhbahn fährt. Dann verharrt er eine geschlagene halbe Stunde auf dem unbefestigten Weg hinter der Bahn, bevor er den Mut aufbringt, auf den Parkplatz einzubiegen. Er hat vor, dich auf der Mülldeponie abzuladen. Mit etwas Glück wird man dich erst in ein paar Tagen entdecken. Du bist schwerer, als er dachte. Es ist viele Jahre her, seit er dich
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