Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
genommen und widerrechtlich fremdes Eigentum betreten hatte.
Irgendwann übermannt mich das Bedürfnis nach Schlaf. Es ist neu für mich, dieses Verlangen, dieses Gefühl, dass meine Lider zunehmend schwerer werden. Mein ganzer Körper schmerzt vor Müdigkeit. Ich kann nur noch an Schlaf denken. Am Rande des Reisfeldes stoße ich auf ein kleines Rechteck aus festgestampfter roter Erde. Ich säubere meine Füße und Knöchel mit Gras, ziehe meine Wolljacke enger um mich und lege mich auf den Rücken. Der Mond ist beinahe kreisrund, der Boden noch feucht vom Regen. Autos fahren auf einer weit ent fernten Straße vorüber, es klingt wie ein leises Flüstern. Ich höre die Grillen, so laut wie in meiner Kindheit, ihr aufgeregtes Summen liefert die Hintergrundmusik zum silberhellen Plätschern des Flusses. Ich verspüre ein mir unbekanntes Gefühl – als würde sich mein Verstand abschotten, sich langsam und lautlos verschließen, dann Erleichterung und dann ein tiefes, traumloses Nichts. Schlaf.
* * *
Als ich das Feld im Morgengrauen verlasse, gelange ich in ein anderes, kleineres Dorf. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen und das Dorf noch feucht von der Nacht, von einem orange-rosa Hauch überzogen. Als ich den Ort betrete, habe ich das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Die Neigung der schmalen Straße, die Dachrinnen der Häuser, die Schatten auf das Pflaster werfen, das Geräusch von Schritten in einer Gasse – ein Plastikschuh, der gegen eine Ferse schlappt, wieder und wieder und wie der –, an diesen Rhythmus erinnere ich mich, an diesen Ge ruch nach neuem Regen und alten Kleidern, die tropfend auf einer Wäscheleine hängen. Aus dem Nirgendwo erschallt plötzlich ein anderer vertrauter Laut, das Läuten eines Telefons. Ich gehe durch eine Gasse und sehe unter den aneinander grenzenden Dachtraufen zweier Häuser eine junge Frau hinter einem Tisch sitzen. Vor ihr befindet sich ein rotes Telefon mit Wählscheibe und daneben eine Öllampe, deren Docht orangefarben glüht. Die junge Frau spricht in den Hörer, sieht mich, legt auf und ruft mir etwas zu.
»Ni hao«, sage ich, da ich nicht weiß, wie ich sonst reagieren soll. »Wo bu hui shuo zhongwen.«
Die junge Frau steht von ihrem Stuhl auf und folgt mir. »Hundert Yuan Amerika«, ruft sie. »Du reden Amerika, hundert Yuan!«
Ein Vorhang teilt sich an einem Fenster im oberen Stock und eine alte Frau blickt zu uns herab. Dann, an einem anderen Fenster, ein alter Mann. »Nein danke«, sage ich so leise wie möglich, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, doch sie hat bereits meinen Arm ergriffen und versucht, mich mitzuziehen. Sie ist überraschend stark. »Hundert Yuan! Du rufen Amerika!«
Bald flammen überall Lichter auf und an den Fenstern der Häuser in der schmalen Gasse drängen sich die Zuschauer. Es scheint, als seien sämtliche Bewohner aufgewacht, um diesem Spektakel beizuwohnen. Ein junger Mann lacht und schreit »Du rufen Amerika!« aus dem Fenster. Er ist nackt, das Dunkel seines Schamhaares ist über dem Fenstersims sichtbar. Ein bloßer weißer Arm schlingt sich um seine Taille, das Gesicht eines Mädchens taucht auf, sie zieht ihn vom Fenster zurück. Der Vorhang schließt sich wieder. Es gelingt mir, mich loszureißen, und ich beginne zu laufen. Hinter mir die anhaltenden Aufforderungen der jungen Frau, das Gelächter der Dorfbewohner an den Fenstern, der hohe, winselnde Klang einer erhu. Augenblicke später bin ich wieder alleine auf der Straße, die in orangefarbenes Licht getaucht ist. Die einzigen Laute, die ich noch höre, sind das Rauschen des Flusses und die schnellen Stöße meines eigenen Atems.
Die Welt ist zu klein für mich geworden. Jeder Ort ist ein Ort, an dem ich schon einmal war. Jeden Laut habe ich in meinem Gedächtnis gespeichert, abrufbereit. Jede Stimme hat, auch wenn die Sprache eine andere ist, einen vertrauten Klang. Meine Gedanken kommen zur Ruhe, werden klarer. Amanda Ruth, Graham, Dave – jeder ist von mir gegangen, hält sich woanders auf. Ich denke an die Leichen, die ich gesehen habe, an die roten Schuhe des Jungen, das zum Himmel gekehrte Gesicht der jungen Frau, die zerknitterten weißen Fußsohlen eines vorbeidriftenden aufgeblähten Leichnams, dessen Hand sich in einem Fischernetz verfangen hatte – überall Tod, der mit der Strömung des Flusses dahintreibt. Die Ascheflocken und Kieselsteine, die verbrannten und scharfkantigen Knochensplitter, die ich dem Fluss während der Fahrt durch
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