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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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zuletzt getragen hat. Er erinnert sich, wie du als Baby warst, an deine hübsche hellbraune Haut, die überraschend ausgeprägte Nase. Wie glücklich er über diese Nase war – die Nase deiner Mutter –, eine schmale, amerikanische Nase! Er erinnert sich, wie er dich auf die Schaukel im Garten setzte, als du klein warst, wie du vor Vergnügen quietschtest, wenn die Schaukel höher schwang als der obere Rand des Zaunes, wie das braune Haar hinter dir herwehte. Und als die Schaukel zu hoch hinaufflog und du Angst bekamst, fing er den Sitz mit seiner Hand auf und bremste den Schwung. Er erinnert sich an die hohen weißen Stiefel deines Majorettenkostüms, wie du am Vierten Juli als Vorhut der Junior-Highschool-Marschkapelle an der Parade teilnahmst, schmuck und stolz auf die rot-weiß-blauen Pailletten – seine amerikanische Tochter, der das Leid erspart bleiben würde, Chinesin zu sein. Und dann eine andere Erinnerung – dein zurückgeworfener Kopf im Bootshaus, du liegst auf dem Fußboden, tust unaussprechliche Dinge mit deiner besten Freundin, einem Mädchen, das ungezählte Nächte in seinem Haus verbracht hat. Er fühlt sich betrogen, verraten, angewidert. Er hat sein Leben lang hart gearbeitet. Er hat sich die Pflicht auferlegt, perfekt Englisch zu lernen, mit einem leichten, bewusst ausgewählten Südstaatenakzent zu sprechen. Er war stets ein treuer Ehemann, ein hingebungsvoller Vater, ein guter Versorger. Er hat alles getan, was man von einem Mann erwartet. Er hat es zu etwas gebracht. Einen Augenblick lang macht er sich Vorwürfe, weil er dich vielleicht zu amerikanisch erzogen hat, du bist zu unabhängig, hast zu viele Rosinen im Kopf.
    Er hat dich gerade aus dem Auto gezerrt, als er in der Ferne ein Geräusch vernimmt – ein Wagen, der sich nähert? Keine Zeit, dich zur Mülldeponie zu schleppen. Ein flüchtiger letzter Blick, ein Abschiedskuss, bevor er in seinen Wagen steigt und nach Hause fährt.
    Zwei Tage später wird ihn die Polizei vernehmen. Er wird meinen Namen nennen und Allisons. Er wird den Verdacht auf uns beide lenken. Dass er mit einer Callahan verheiratet ist, wird ihm zunächst einen gewissen Schutz verleihen. Sie werden Allison aus Montevallo herbeizitieren, um sie zu verhören, und dann werden sie auch mich hineinziehen. Sie werden mit Amanda Ruths ehemaligen Lehrern von der Highschool sprechen, mit dem Pastor ihrer Kirchengemeinde. Wenige Tage danach wird Mr. Lee im Wohnzimmer sitzen, als die Polizei eintrifft, um ihn festzunehmen. Er wird Cola trinken und sich die Abendnachrichten im Fernsehen ansehen. Mrs. Lee wird die Haustür öffnen, dann wird sie von der Küche aus zuschauen, wie sie ihren Mann abführen. Der Reporter von Channel 5 wird ihm ein Mikrofon vor das Gesicht halten, als ihn die Polizei ins Präsidium eskortiert. Er ist unrasiert, hat dunkle Ringe unter den Augen, den Blick zu Boden gerichtet. Ein Reporter vom Greenbrook Daily wird nach Montevallo fahren, um sich mit Amanda Ruths Freunden zu unterhalten. »Lesbierin von Erzürntem Vater Getötet«, wird die Schlagzeile lauten. Schon der erste Absatz wird diskriminierend sein, wird Mr. Lee als Chinesen abstempeln, obwohl er die meiste Zeit seines Lebens in Amerika verbracht hat, perfekt Englisch spricht und jeden Vierten Juli, am Nationalfeiertag, das Sternenbanner hisst.
    Von da an wird Amanda Ruths Name in keinem Artikel und in keiner Fernsehsendung auftauchen, ohne dass das Wort lesbisch erwähnt wird. Der Pastor der Kirchengemeinde, der die Lees angehören, wird eine häufig zitierte Predigt halten und sagen: »Der Zorn Gottes ist über diese Familie gekommen.« Er wird auf »die Krankheit« anspielen, »eine Heimsuchung für unsere ganze Nation«, obwohl sie nichts mit dem Mord und dem sechsten Gebot zu tun hat. Eltern werden aufgerufen sein, genau unter die Lupe zu nehmen, mit wem ihre Kinder Umgang haben. Die lokalen Rundfunkstationen werden ein täglich ausgestrahltes Präventionsprogramm ins Leben rufen und die Frage stellen: »Interessieren sich Ihre heranwachsenden Kinder für das andere Geschlecht?« Wenn die Antwort Nein lautet, werden die Eltern angespornt, der Sache auf den Grund zu gehen.
    Meine eigenen Eltern werden mich beim Abendessen ansehen, als wäre ich eine Fremde. Sie werden mich zum Flughafen bringen, um die nächste Maschine nach New York City zu erwischen, und meine Mutter wird mich in die Arme schließen, als wäre es das letzte Mal. Die Leute in der kleinen Abflughalle werden mich anhand

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