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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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des Zeitungsfotos erkennen. Sie werden mit dem Finger auf mich zeigen, flüstern und krampfhaft meinen Blick meiden.
    Und dann, in einer Höhe von dreißigtausend Fuß, endlich die Erlösung: Die Stewardess wird mich ausdruckslos ansehen und mit einem starken Long-Island-Akzent fragen, was ich trinken möchte. Sie wird mir ein Glas Mineralwasser einschenken, das auf den kleinen Eiswürfeln prickelt, und ich werde mich über ihre grenzenlose Gleichgültigkeit freuen, weil ich weiß, sie sieht nur einen Passagier von vielen in mir, keinen Abschaum der Gesellschaft oder eine Mörderin.
    Wenn ich in La Guardia aus dem Flugzeug steige, werde ich Dave in der Ankunftshalle stehen sehen, der auf mich gewartet hat. Sein Haar ist zerzaust, eine vereinzelte dunkle Locke fällt ihm in die Stirn. Ich werde mich in seine Arme stürzen und in die wunderbare dunkle Anonymität einer Nacht in New York City eintauchen.

25
    Am zwölften Tag halten wir in Fengdu, das in ganz China als Stadt der Geister bekannt ist. Berühmt ist Fengdu vor allem wegen des Minshan Berges, das Tor, das die Seelen auf ihrem Weg zur Hölle vermeintlich passieren müssen. Doch die Ortschaft wird bald auch im zeitgenössischen Wortsinn eine Stadt der Geister sein; nach Fertigstellung des Damms wird sie in den Fluten versinken. Sie ist bereits evakuiert, die drei Millionen Einwohner sind in eine neue, höher gelegene Stadt am anderen Flussufer umgesiedelt worden.
    Unser Schiff legt am Kai des alten Fengdu an, um eine nicht menschliche Fracht an Bord zu nehmen und sie flussaufwärts zu transportieren, Bretterverschalungen von zerlegten Häusern, Altmetall, Fahrradteile, eine Myriade von Dingen, die in der Hast des Aufbruchs zurückgeblieben sind. Graham und ich stehen an Deck und sehen zu, wie die Lastenträger sie die Rampe hinaufschleppen. Ein klei ner Seesack liegt zu Grahams Füßen. »Wozu ist der?«, frage ich.
    »Das ist die letzte Station meiner Reise.«
    »Aber wir sollen hier doch nicht von Bord gehen.«
    »Ich habe alles arrangiert. Ich möchte, dass du mich begleitest.«
    Die Stadt ist sonderbar still. Mit Ausnahme der wenigen Sampans am Flussufer und der Lastenträger, die Güter an Bord bringen, erweckt sie den Eindruck, als sei sie völlig verlassen. »Hier gibt es doch gar nichts zu sehen«, sage ich.
    »Erinnerst du dich, dass du sagtest, du würdest alles für mich tun?« Er fixiert mich mit einem Blick, den ich nicht abschütteln kann.
    »Mehr verlange ich nicht.«
    Ich nehme seine zitternden Hände. »Warum ausgerechnet hier?«
    »Vertrau mir.«
    Ein Mann, der eine überladene Rikscha die Rampe hochzieht, verliert sein Gleichgewicht, das Gefährt kippt um und ein Stuhl und mehrere Töpfe landen im Wasser. Matt Dillon, dieses Mal nicht in Uniform, eilt ihm zu Hilfe.
    »Das kann ja noch heiter werden mit Dave«, sage ich.
    Graham lächelt. »Du kommst also mit?«
    »Das wusstest du doch.« Ich lehne mich an ihn, verwegen und zu allen Torheiten bereit. Wir stehen ein paar Minuten reglos da. Er holt tief Luft. Ich blicke ihn an, doch er wendet sein Gesicht ab. »Hast du Schmerzen?«
    »Ganz im Gegenteil.« Er lacht. »Ich kann mein Glück nicht fassen. Geh und sprich mit Dave. Pack ein paar Sachen zusammen. Ich warte hier.«
    Dave sitzt mit Stacy im Salon und spielt Karten. Ich ziehe mir einen Stuhl heran. Stacy zupft an ihrem Ohrring. »Möchtest du mitmachen?«
    »Nein danke. Ich wollte mir nur Dave für eine Minute ausleihen.«
    »Was gibt’s?«, fragt er.
    »Ich muss mit dir reden.« Eine lange Pause. Dave sieht Stacy an.
    »Oh«, sagt sie. »Natürlich. Bin gleich zurück.«
    »Also?«, fragt Dave.
    »Ich gehe von Bord.«
    Er runzelt die Stirn. »Hier?«
    »Mit Graham.«
    »Das geht doch nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Was ist mit deinem Rückflug?«
    »Bis dahin hole ich euch wieder ein.«
    Dave starrt seine Karten an. Er deckt sie auf, eine nach der anderen. »Muss das sein?«
    »Ja.«
    Er schiebt das Blatt zusammen, nimmt es in die Hand, klopft damit zweimal gegen den Tisch und formt den Pa cken zu einem festen Rechteck. »Du machst einen Fehler.«
    »Willst du damit sagen, dass du wieder einziehst?«
    Er legt die Karten zu einer perfekten Brücke aus. Sie sirren leise, als er sie wie eine Ziehharmonika auseinander zieht. »Ich sage nur, dass du keine Dummheiten anstellen solltest, um es mir heimzuzahlen.«
    Ich stehe auf. »Auf Wiedersehen, Dave.«
    * * *
    Graham führt mich durch die menschenleeren Straßen. In jener ersten Nacht an

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