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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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Kladden der Viertel Saint-Georges und Les Grandes-Carrières hieß, und diese Worte – die großen Steinbrüche – weckten in mir die Vorstellung von einer Wiese im Mondschein, nach dem Pont Caulaincourt, ganz am Ende, hinter dem Friedhof, eine Wiese, wo man endlich in freier Luft atmen konnte. Ihre Mutter hatte sie vom Revier abgeholt. Doch jetzt war sie auf den Geschmack gekommen, und niemand konnte sie mehr aufhalten. Nächtliches Herumstreunen in Richtung Westen, wenn ich die paar Hinweise, die Bernolle gesammelt hatte, richtig verstand. Zunächst das Viertel um die Place de l’Étoile, dann noch weiter nach Westen, Neuilly und Bois de Boulogne. Aber warum hatte sie Choureau geheiratet? Und wieder eine Flucht, aber diesmal ans linke Seineufer, als könnte das Überqueren des Flusses sie vor einer unmittelbaren Gefahr schützen. Oder war diese Heirat nicht auch eine Art Schutz gewesen? Hätte sie nur die Geduld besessen, in Neuilly auszuharren, dann wäre mit der Zeit in Vergessenheit geraten, dass sich unter einer Madame Jean-Pierre Choureau eine Jacqueline Delanque verbarg, deren Name zweimal in Polizeikladden auftauchte.
    Tja, ich war immer noch ein Gefangener meiner alten beruflichen Reflexe, deretwegen meine Kollegen einst sagten, selbst im Schlaf würde ich meine Ermittlungen fortführen. Blémant verglich mich mit jenem Nachkriegsganoven, den sie »der Mann, der beim Schlafen raucht« nannten. Auf seinem Nachttisch hatte er ständig einen Aschenbecher, in dem eine brennende Zigarette lag. Er schlief in kleinen Portionen, und bei jedem kurzen Erwachen streckte er den Arm aus nach seinem Aschenbecher und tat einen Zug an der Zigarette. Und wenn diese ausging, steckte er sich mit nachtwandlerischer Geste eine neue an. Morgens jedoch konnte er sich an nichts mehr erinnern und war überzeugt, er habe tief und fest geschlafen. Auch ich hatte auf dieser Bank jetzt, da es finster war, das Gefühl, mich in einem Traum zu befinden und immer weiter Jacqueline Delanques Spur zu verfolgen.
    Oder vielmehr, ich spürte ihre Gegenwart auf diesem Boulevard, dessen Lichter wie Signale leuchteten, ohne dass ich sie hätte entschlüsseln können und ohne zu wissen, aus welch fernen Jahren sie zu mir drangen. Und sie dünkten mich noch viel heller, diese Lichter, wegen des Halbdunkels auf dem Mittelstreifen. Hell und zugleich weit weg.
    Ich hatte meine Socke angezogen, den Fuß wieder in meinen linken Schuh gezwängt und diese Bank verlassen, auf der ich gern die ganze Nacht gesessen hätte. Und ich folgte dem breiten Boulevard, so wie sie, mit fünfzehn, bevor sie geschnappt wurde. Wo und wann genau hatte sie die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt?
    Jean-Pierre Choureau würde irgendwann aufgeben. Ich wollte noch ein paarmal am Telefon mit ihm sprechen und weitschweifige Auskünfte erteilen – lauter Lügen, natürlich. Paris ist groß, und es ist leicht, hier jemanden zu verlieren. Wenn ich einmal sicher bin, ihn auf falsche Fährten gelockt zu haben, werde ich seine Anrufe nicht mehr entgegennehmen. Jacqueline konnte auf mich zählen. Ich würde ihr Zeit lassen, sich endgültig in Sicherheit zu bringen.
    In diesem Augenblick ging auch sie irgendwo durch diese Stadt. Oder sie saß an einem Tisch, im Condé. Aber sie hatte nichts zu befürchten. Ich würde ihr nicht mehr auflauern.

Als ich fünfzehn war, konnte man mich für neunzehn halten. Und sogar für zwanzig. Ich hieß nicht Louki, sondern Jacqueline. Ich war noch viel jünger, als ich zum ersten Mal die Abwesenheit meiner Mutter ausnutzte und mich davonschlich. Sie ging gegen neun Uhr abends zur Arbeit und kam nie vor morgens um zwei nach Hause. Bei diesem ersten Mal hatte ich mir eine Lüge für den Concierge ausgedacht, falls er mich im Treppenhaus überraschen sollte. Ich hätte ihm gesagt, ich müsste in der Apotheke an der Place Blanche ein Medikament kaufen.
    Ich war nie wieder in dieses Viertel gekommen bis zu dem Abend, als Roland mich im Taxi zu jenem Freund von Guy de Vere mitnahm. Wir waren dort verabredet mit all den andern, die regelmäßig an den Treffen teilnahmen. Wir hatten uns gerade erst kennengelernt, Roland und ich, und ich habe mich nicht getraut, irgendetwas zu sagen, als er das Taxi auf der Place Blanche anhalten ließ. Er wollte, dass wir noch ein Stück laufen. Vielleicht hat er gar nicht bemerkt, wie fest ich seinen Arm drückte. Mir war schwindlig geworden. Ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt über den Platz ginge, würde ich umkippen.

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