Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
Ich hatte Angst. Er, der so oft von der Ewigen Wiederkehr spricht, er hätte mich verstanden. Ja, für mich fing alles wieder von vorne an, als sei das Treffen mit diesen Leuten nur ein Vorwand und als habe man Roland beauftragt, mich behutsam heimzuführen.
Ich war erleichtert, dass wir nicht am Moulin-Rouge vorbeigingen. Obwohl meine Mutter seit vier Jahren tot war und ich nichts mehr zu befürchten hatte. Jedesmal, wenn ich nachts aus der Wohnung schlüpfte, während ihrer Abwesenheit, nahm ich die andere Seite des Boulevards, die zum 9. Arrondissement gehört. Kein Licht auf dieser Straßenseite. Das düstere Gebäude des Lycée Jules-Ferry, dann Hausfassaden, deren Fenster erloschen waren, ein Restaurant, aber sein Gastraum schien immerzu in Halbdunkel getaucht. Und jedesmal musste ich einen Blick hinüberwerfen auf das Trottoir mit dem Moulin-Rouge. Wenn ich am Café des Palmiers angelangt war und auf die Place Blanche trat, verließ mich der Mut. Die Lichter, von neuem. Eines Nachts, als ich an der Apotheke vorbeigekommen war, hatte ich meine Mutter, zusammen mit anderen Kunden, hinter der Scheibe erblickt. Ich hatte mir gesagt, sie habe ihre Arbeit früher als sonst beendet und würde in die Wohnung zurückkehren. Wenn ich rannte, konnte ich vor ihr da sein. Ich hatte mich an der Ecke Rue de Bruxelles postiert, um zu sehen, welchen Weg sie einschlagen würde. Doch sie war über den Platz gegangen und wieder im Moulin-Rouge verschwunden.
Oft hatte ich Angst, und um wieder Mut zu schöpfen, wäre ich gern zu meiner Mutter gelaufen, aber ich hätte sie nur bei der Arbeit gestört. Heute weiß ich, sie hätte mich nicht ausgeschimpft, denn in jener Nacht, als sie mich vom Polizeirevier der Grandes-Carrières abholte, habe ich von ihr keinen Vorwurf gehört, keine Drohung, keine Moralpredigt. Wir gingen stumm nebeneinander. Mitten auf dem Pont Caulaincourt hörte ich sie mit teilnahmsloser Stimme sagen: »Meine arme Kleine«, ich fragte mich jedoch, ob sie zu mir sprach oder zu sich selbst. Sie hat gewartet, bis ich ausgezogen war und im Bett lag, dann kam sie zu mir ins Zimmer. Sie setzte sich ans Fußende und schwieg. Und ich ebenfalls. Schließlich lächelte sie. Sie hat gesagt: »Wir sind beide nicht sehr gesprächig …«, und sie hat mir gerade in die Augen geblickt. Es war das erste Mal, dass ihr Blick so lange auf mir ruhte, und auch das erste Mal, dass mir auffiel, wie hell ihre Augen waren, grau oder ein wässeriges Blau. Graublau. Sie beugte sich zu mir und küsste mich auf die Wange, oder vielmehr spürte ich ganz flüchtig ihre Lippen. Und immer noch dieser Blick, der auf mir ruhte, dieser helle und abwesende Blick. Sie löschte das Licht, und bevor sie die Tür hinter sich schloss, hat sie noch gesagt: »Sieh zu, dass es nicht wieder vorkommt.« Ich glaube, es war das einzige Mal, dass zwischen uns eine Verbindung entstanden war, so kurz, so ungeschickt und doch so stark, dass ich bedaure, in den folgenden Monaten nichts unternommen zu haben, was diese Verbindung noch einmal hergestellt hätte. Aber wir waren alle beide keine sehr überschwenglichen Menschen. Vielleicht legte sie mir gegenüber diese scheinbar gleichgültige Haltung an den Tag, weil sie sich meinetwegen keinerlei Illusionen machte. Bestimmt sagte sie sich, es sei nicht viel zu erhoffen, denn ich war ihr zu ähnlich.
Doch über diese Dinge habe ich damals nie nachgedacht. Ich lebte in der Gegenwart, ohne mir Fragen zu stellen. Alles hat sich an jenem Abend geändert, als Roland mich wieder in dieses Viertel mitnahm, um das ich sonst einen Bogen machte. Ich hatte seit dem Tod meiner Mutter keinen Fuß mehr dorthin gesetzt. Das Taxi fuhr in die Rue de la Chaussée-d’Antin, und ganz hinten sah ich die schwarze Masse der Église de La Trinité, wie einen riesigen Adler, der Wache hielt. Ich fühlte mich unwohl. Wir näherten uns der Grenze. Ich sagte mir, dass noch Hoffnung bestand. Vielleicht würden wir rechts abbiegen. Nichts geschah. Wir rollten geradeaus, vorbei am Square de La Trinité, die Steigung hinauf. An der roten Ampel, kurz vor der Place de Clichy, hätte ich fast die Tür aufgerissen und wäre fortgelaufen. Aber das konnte ich ihm nicht antun.
Später, als wir zu Fuß die Rue des Abbesses entlanggingen, zu dem Haus, wo wir verabredet waren, habe ich meine Ruhe wiedergewonnen. Zum Glück hatte Roland nichts gemerkt. Und auf einmal hat es mir leid getan, dass wir nicht länger zu zweit durch das Viertel spazierten. Ich
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