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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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hätte es ihm gerne gezeigt, auch den Ort, wo ich vor knapp sechs Jahren noch wohnte, und das alles lag so weit weg, in einem anderen Leben … Nach dem Tod meiner Mutter verknüpfte mich ein einziges Band mit jener Zeit, ein gewisser Guy Lavigne, der Freund meiner Mutter. Ich hatte verstanden, dass er die Wohnungsmiete bezahlte. Ich sehe ihn noch immer, hin und wieder. Er arbeitet in einer Autowerkstatt, in Auteuil. Aber wir reden fast nie über die Vergangenheit. Er ist so wenig gesprächig wie meine Mutter. Als sie mich aufs Polizeirevier mitnahmen, stellten sie mir Fragen, auf die ich wohl oder übel antworten musste, doch anfangs tat ich es so widerwillig, dass sie zu mir sagten: »Du bist nicht sehr gesprächig …«, was sie auch zu meiner Mutter und zu Guy Lavigne hätten sagen können, wären die beiden ihnen jemals in die Hände gefallen. Ich war es nicht gewohnt, dass man mir Fragen stellte. Ich wunderte mich sogar, dass sie sich für meinen Fall interessierten. Beim zweiten Mal, auf dem Revier der Grandes-Carrières, bin ich an einen Bullen geraten, der netter war als der andere, und ich fand Gefallen an seiner Art, mir Fragen zu stellen. Es war also erlaubt, sich jemandem anzuvertrauen, von sich selbst zu erzählen, und ein Mensch, dir gegenüber, interessierte sich für dein Tun und Treiben. Ich war diese Situation so wenig gewohnt, dass ich keine Worte fand. Außer bei sehr präzisen Fragen. Zum Beispiel: Wo haben Sie die Schule besucht? Bei den Schwestern von Saint-Vincent de Paul in der Rue Caulaincourt, und die öffentliche Grundschule in der Rue Antoinette. Ich schämte mich, ihm zu sagen, dass ich im Lycée Jules-Ferry nicht aufgenommen worden war, aber dann habe ich tief durchgeatmet und ihm dieses Geständnis gemacht. Er hat sich zu mir gebeugt und mit sanfter Stimme gesagt, als ob er mich trösten wollte: »Das war Pech fürs Lycée Jules-Ferry …« Und das hat mich so überrascht, dass ich beinah gelacht hätte. Er lächelte mich an und blickte mir in die Augen, ein heller Blick wie der meiner Mutter, aber zärtlicher, aufmerksamer. Er hat mich auch nach meinen familiären Verhältnissen gefragt. Da ich Zutrauen hatte, vermochte ich ihm ein paar magere Auskünfte zu geben: Meine Mutter stammte aus einem kleinen Dorf in der Sologne, wo ein gewisser Monsieur Foucret, Direktor des Moulin-Rouge, ein Landgut besaß. Und deshalb hatte sie in jungen Jahren, als sie nach Paris gegangen war, eine Arbeit in diesem Theater bekommen. Ich wusste nicht, wer mein Vater war. Ich war da unten geboren, in der Sologne, aber wir waren nie wieder hingefahren. Deshalb sagte meine Mutter wohl so oft zu mir: »Wir haben kein Dach überm Kopf …« Er hörte mir zu und machte sich manchmal Notizen. Und mich erfüllte ein ganz neues Gefühl: Während ich ihm diese armseligen Einzelheiten aufzählte, fiel eine Last von mir ab. Das alles betraf mich nicht mehr, ich sprach von jemand anders, und ich war erleichtert zu sehen, dass er sich Notizen machte. Wenn alles schwarz auf weiß geschrieben stand, so hieß das, es war vorbei, gleich wie auf Grabsteinen, in die Namen und Daten eingemeißelt sind. Und ich sprach immer schneller, die Worte überstürzten sich: Moulin-Rouge, meine Mutter, Guy Lavigne, Lycée Jules-Ferry, die Sologne … Ich hatte nie mit irgendwem reden können. Was für eine Erlösung, als die Worte aus meinem Mund kamen … Ein Teil meines Lebens ging zu Ende, eines Lebens, das mir aufgezwungen worden war. Fortan würde ich selbst über mein Schicksal entscheiden. Alles würde neu beginnen, von heute an, und weil ich richtig Anlauf nehmen wollte, wäre es mir lieb gewesen, er hätte alles ausgestrichen, was schon geschrieben stand. Ich war bereit, ihm neue Einzelheiten zu nennen und neue Namen und ihm von einer ausgedachten Familie zu erzählen, einer Familie, wie ich sie mir erträumt hätte.
    Gegen zwei Uhr morgens kam meine Mutter mich holen. Er hat ihr gesagt, es sei nicht schlimm. Immer noch ruhte sein aufmerksamer Blick auf mir. Herumstreunen einer Minderjährigen, so hieß es in ihrem Register. Draußen wartete ein Taxi. Als er mich nach der Schule fragte, da hatte ich vergessen, ihm zu sagen, dass ich ein paar Monate lang in eine Schule ganz in der Nähe gegangen war, auf derselben Straßenseite wie das Revier. Ich blieb in der Kantine, und meine Mutter holte mich am späten Nachmittag ab. Manchmal kam sie zu spät, und ich wartete auf einer Bank, bei dem kleinen Platz. Dabei ist mir

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