Im Dienste der Comtesse
Respekt vor ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit.
Er genoss es, mit ihr zu reden, und er war fasziniert von den Bildern, die sie gezeichnet hatte, und von der Tonfigur der Meerjungfrau. Im Schlaf hatten ihn immer wieder sinnliche Träume heimgesucht, in denen Mélusine vollkommen nackt war – und ihre untere Körperhälfte hatte da nicht in einem Fischschwanz geendet. In seinen nächtlichen Vorstellungen hatte sie die Beine um seine Hüften geschlungen. Er musste seine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen, diese Bilder aus seinem Kopf zu verdrängen. Solange er noch geglaubt hatte, Mélusine wäre die Erpresserin, hätte er keine Skrupel gehabt, ihr Liebhaber zu werden. Jetzt allerdings kam eine Affäre nicht mehr infrage. Wenn er sie sich weiterhin zu oft in seinem Bett vorstellte, endete er noch als nervliches Wrack.
Unmittelbar vor dem Polizeipräsidium blieb Mélusine plötzlich stehen und hob die Hand vor die Lippen.
„Madame?“ Besorgt berührte er ihren Arm.
Nach einer Weile lächelte sie ihn angespannt an. „Meine Kehle war eben so trocken, dass ich gar nicht mehr schlucken konnte“, erklärte sie heiser. „Dabei ist es doch nur vernünftig, dass ich wissen will, ob sie die Schuldigen am Tod meines Mannes gefunden haben.“
„Das ist sogar sehr vernünftig.“
„Genau damit werde ich auch anfangen. Erst einmal werde ich kein Wort über die Gerüchte verlieren, vielleicht ist es gar nicht notwendig, sie zu erwähnen. Ich werde sagen, dass ich durch meine Rückkehr nach Paris nun endlich selbst die Möglichkeit habe, mit der Polizei zu sprechen. Als Bertiers Witwe habe ich das Recht, alle Einzelheiten über seinen Tod zu erfahren.“
„Gewiss, Madame.“
„Auch wenn Sie diesen Besuch eigentlich nicht billigen?“
„Ich möchte nur nicht, dass er Ihnen Kummer bereitet. Wollen Sie nicht vielleicht Monsieur Barrière bitten, an Ihrer Stelle Erkundigungen einzuholen?“, schlug Pierce vor, obwohl es für ihn eigentlich besser war, wenn Mélusine die Fragen stellte, denn dann konnte sie sicher sein, auch die wahren Antworten zu erhalten. Und damit auch er. Fast hätte er ihr angeboten, das Gespräch zu führen. Doch die Pariser Polizei war berüchtigt dafür, alle Besucher der Stadt genau unter die Lupe zu nehmen, und unter diesen Umständen wollte er nicht ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
„Natürlich könnte ich Monsieur Barrière bitten, aber dann hört er eventuell von dem Gerücht, ich hätte einen Liebhaber gehabt, und das erscheint mir nicht passend, wenn es nicht unbedingt sein muss.“ Mélusine atmete tief durch. „Sie bleiben die ganze Zeit über bei mir“, wies sie ihn an. „Sagen Sie nichts mehr, nachdem Sie meinen Wunsch überbracht haben, dass ich den Präsidenten sprechen möchte. Bleiben Sie in meiner Nähe und hören Sie genau zu, für den Fall, dass mir etwas entgeht. Abgesehen davon …“ Sie musterte seine vornehme Livree. „In Ihrer Begleitung mache ich einen gewichtigeren Eindruck. Man wird mich anhören müssen, schließlich bin ich die Comtesse de Gilocourt.“ Sie klang beinahe überrascht, als sie den Titel benutzte.
„Sie selbst sind es, die diesem Titel neue Anmut verleiht, Madame“, erwiderte Pierce von Herzen aufrichtig.
Sie zuckte leicht zusammen, doch dann erhellte ein warmes Lächeln ihre Züge. „Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. Nun …“ Ihr Lächeln erstarb, und sie holte nochmals tief Luft. „Lassen Sie uns hineingehen.“
Nachdem Pierce ihre Karte überreicht und ihren Wunsch geäußert hatte, den Polizeipräsidenten zu sprechen, dauerte es eine Weile, bis sie endlich zu ihm vorgelassen wurden.
„Comtesse, es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen.“ Lieutenant de Crosne beugte sich über ihre Hand. Pierce, der ihn unauffällig beobachtete, schätzte ihn auf Anfang fünfzig.
„Monseigneur, ich hoffe, Sie sind wohlauf?“, erwiderte Mélusine. Eine leichte Atemlosigkeit war der einzige Hinweis darauf, dass sie nervös war. Pierce war stolz auf ihre Selbstbeherrschung.
„Es geht mir sehr gut, vielen Dank“, sagte de Crosne. „Bitte, nehmen Sie doch Platz. Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?“
„Ich komme wegen des Todes meines Gemahls“, eröffnete Mélusine.
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen mein Beileid nicht persönlich aussprechen konnte.“ Hinter der förmlichen Höflichkeit des Lieutenant war ein Hauch von Ungeduld zu spüren, als dächte er, er hätte Wichtigeres zu tun, als mit einer trauernden Witwe zu
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