Im Dunkel der Schuld
war, worauf die Antwort gelautet hatte: »Das darf niemand wissen.« Und: »Das ist alles ganz anders.« Aber auch: »Das würdest du nie verstehen.« Und schlieÃlich die Andeutung, dass im Sommer vielleicht alles überstanden war.
Verdammt, das lieà doch nur einen Schluss zu: Es gab diesen Mann, und er lebte in Scheidung. Deswegen brachte man sich nicht um. Es sei denn, er hatte Schluss gemacht, aber danach sah es nicht aus, im Gegenteil: Rosie hatte sorgfältig jede Spur zu diesem Mann getilgt. Warum? Auch unglücklich Verliebte hoben doch gern Souvenirs von romantischen gemeinsamen Augenblicken auf, wenn schon keine Fotos, dann doch irgendetwas!
Andererseits: Wenn er ihr das verboten hatte, hatte sie gehorcht. So war Rosie. Wer das einmal durchschaut hatte, konnte sie formen, wie er wollte. Hatte er Rosie nur benutzt? Wozu?
Verbissen durchsuchte Ebba in den nächsten Tagen das Haus vom Keller bis zum Dachboden, leerte jede Schublade, drehte jedes Buch und jeden Blumentopf um. Es gab nichts. Auch die Wohnung im Turm war nur erschreckend leer.
Am Montag war sie mürbe. Vielleicht suchte sie wirklich nach einem Phantom. Vielleicht bildete sie sich alles nur ein, weil sie nicht loslassen konnte. Weil sie nicht akzeptieren wollte, dass nahe Angehörige anders waren, als man es wahrhaben wollte. Vielleicht war es einfach so gewesen, dass Rosie all die Ratgeber nur deshalb gelesen hatte, weil ihr Problem überhandgenommen hatte. Vielleicht arbeitete sie an dem Projekt, um ihre Ãngste in den Griff zu bekommen. Vielleicht hatte sie es nicht geschafft und sich aufgegeben.
Vielleicht sollte man das einfach akzeptieren.
Noch am Montagnachmittag beauftragte Ebba den Makler, alles zu verkaufen, bot Inken, die sich im Ãbrigen rührend um Rosies Katze kümmerte, an, das »Eulennest« zu einem niedrigen Mietzins und ohne Ablöse zu übernehmen und weiterzuführen, packte ein paar Kisten mit Erinnerungsstücken und Rosies Computer in Rosies Wagen und fuhr damit zurück nach Baden-Baden, um das Begräbnis zu organisieren.
Fünfundzwanzig
Freitag, 18. März 2011
Der Angreifer kam von hinten, lautlos, fast nur eine Ahnung. Ebba wirbelte herum, hob das Bein und streckte es. Ihr Fuà krachte gegen seinen Oberkörper, wirkungslos, denn genauso blitzschnell hatte er ihren Knöchel gepackt, drehte sich und kam mit ihr zusammen zu Fall. Sie knallte auf den Rücken und keuchte, dann hob sie das rechte Knie und machte gleichzeitig die Handkanten schlagbereit. Ein Schrei ertönte, und es dauerte einen kurzen Augenblick, bis sie erkannte, dass es ihr eigener war. Gut so. Stärke zeigen. Innere Kräfte sammeln. Und jetzt zuschlagen. Hart, pfeilschnell, mitleidlos.
Neuer Angriff von vorn. Gegnerische Hände an der eigenen Brust fixieren, Handsperrhebel, Handseithebel, Ãbergang zum Handdrehbeugehebel, Einknicken des Arms am Ellbogen, Ãbergang in den Handdreh-, Sperr-, Beugehebel, Kipphandhebel, Viertelschrittdrehung und jetzt Gleichgewicht brechen. Ebba beherrschte die Griffe wie im Schlaf. Das Ergebnis von fünf Jahren regelmäÃigem Training. In letzter Zeit kam sie zwar nur selten dazu, dennoch fühlte sie sich fit und stark.
Das Training hatte körperlich gut getan, aber die traurigen Gedanken nicht vertreiben können. Wenn dieser Tag nur endlich vorüber wäre! Immer noch konnte sie sich nicht vorstellen, ihre Schwester begraben zu müssen.
Diesmal ging sie zu Fuà zum Friedhof, denn es gab niemanden mehr, den sie hätte fahren müssen. Der Weg wurde mit jedem Schritt qualvoller. Wie konnten Narzissen und Krokusse hier schon so farbenfroh blühen, Meisen in fröhlichem Eifer ihre Nester bauen, Amseln auf hohen Tannen ihre Lieder singen, erste hellgrüne Laubspitzen Frühlingslaune verbreiten, wenn Rosie gleich neben die übrigen Familienmitglieder gebettet wurde? Wie sollte sie selbst jemals wieder lachen können â mit dem Bewusstsein, dass sie die letzte Ãberlebende war?
Jetzt noch der steile Anstieg zur Friedhofskapelle, vorbei an Grabstellen, die zum Teil noch mit Tannenreisig abgedeckt waren. Ebba machte einen groÃen Bogen um den allzu bekannten Bereich des Seidelâschen Familiengrabs. Sie würde das frisch ausgehobene Loch noch früh genug zu Gesicht bekommen.
Die Sonne brannte regelrecht auf ihr schwarzes Kleid, das bei jedem Schritt an ihren Oberschenkeln klebte und sich immer weiter
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