Im Dunkel der Schuld
nach oben schob, ähnlich aufgeladen wie ihre Haare, die ihr sicherlich wieder vom Kopf abstanden, obwohl sie sie eben erst im kleinen Waschraum der Friedhofsverwaltung mit angefeuchteten Händen glatt gestrichen hatte.
Sie war zu früh, aber die Kapelle war bereits geöffnet. Sie nahm in der letzten Reihe Platz, als sei sie Zaungast, nicht die einzige Trauernde, die Rosie Seidel heute auf ihrem letzten Weg begleitete.
Der blau-gelb-grün geschmückte Sarg stand verloren vorn im Altarraum, und Ebba wünschte ihn sich inbrünstig fort. Sie fühlte sich alt und müde, sie war es leid, einen Angehörigen nach dem anderen zu beerdigen. Sie wollte nicht mehr Abschied nehmen, nicht mehr über den Tod nachdenken müssen.
Es war, als läge tatsächlich ein Fluch auf ihrer Familie, ganz so, wie ihre Mutter es ihnen jahrelang vorgebetet hatte. Sie konnte Frieda und Rosie inzwischen nachfühlen, wie sie ihre letzten Tage in Depression verbracht haben mochten. Auch sie hätte am liebsten die Decke über den Kopf gezogen und wäre nie mehr aufgestanden. Selbst das Training heute Morgen hatte keinen Spaà gemacht, sondern nur geholfen, die Zeit zu vertreiben.
Zähe Ruhe beherrschte den achteckigen Raum der Kapelle, lauerte in den Wänden, quoll immer näher auf sie zu. Fröstelnd verschränkte Ebba ihre Arme und sehnte sich hinaus ins Sonnenlicht. Sie wusste langsam nicht mehr, wie sie sich noch ablenken konnte. Gleich morgen würde sie wieder in die Galerie gehen und sich in die Arbeit stürzen. Frau Hilpert war bestimmt froh, wenn sie sie in ein Wochenende mit ihrem bärigen Motorradfreund schickte.
Wochenende! Ebba seufzte leise. Der Sonntag wurde bestimmt schlimm. Ob sie die Einladung von Monsieur Leblanc annehmen und nach StraÃburg fahren sollte, um sich über Corinna Fuchsâ Fortschritte zu informieren? Jörg würde erst Mitte nächster Woche in Baden-Baden sein, und ihre Wohnung kam ihr im Augenblick nicht mehr wie ihre Fluchtburg vor, sondern wie ein Mausoleum. Ãberall wurde sie an Rosie erinnert: Deren Computer stand auf dem Esstisch, daneben lagen die Ratgeber, in denen sie zuletzt gelesen hatte, neben der Couch stapelten sich ihre Dokumente über Geldanlagen, den Wohnungskauf, die Verträge für das Haus in Arnis und die Buchhandlung, Versicherungen und Stromabrechnungen.
Kein einziges Foto gab es von ihrer Schwester, genauso wie keines von Georg oder ihrer Mutter existierte. Nur auf dem Grabstein würden ihre Namen überleben â und in Ebbas Herzen die Bilder, die sie sich von ihnen gemacht hatte und die womöglich falsch gewesen waren.
Auch Jörg hatte ihr in ihren Grübeleien nicht helfen können, sosehr er sich auch bemühte, sie abzulenken. Er hatte sie an den letzten Abenden zum Essen eingeladen, hatte sich geduldig alte Geschichten angehört, die erstaunlicherweise weniger wehtaten, wenn man sie aussprach, als wenn man tief im Innern auf ihnen herumbiss. Er hatte nicht nach den Hintergründen der Todesfälle gefragt, auch den Tod ihres Vaters nicht erwähnt, den er doch einst so oft hinterfragt hatte, er hatte Ebba mit einfachen Gesten getröstet, indem er seine Hand auf die ihre legte, ihre Wange streichelte oder ihr die Haare glatt strich. Er hatte sich damit zufriedengegeben, sie vor der Haustür zu verabschieden, ohne an frühere Vertraulichkeiten anzuknüpfen. Es war, als würden sie sich neu entdecken, als bekämen sie eine zweite Chance, nicht um eine zerbrochene Beziehung zu kitten, sondern um noch einmal ganz von vorn anzufangen.
Gestern war er nach Südtirol aufgebrochen, und Ebba hatte sich verlassen gefühlt. Genau deshalb hatte sie sich immer vor der Liebe gefürchtet: weil sie einen Menschen wie eine Muschel öffnete und schutzlos verletzbar machte. Nie hatte es ihr bislang etwas ausgemacht, allein zu sein, und nun war sie sich schon in der ersten Stunde ohne Jörg wie amputiert vorgekommen. Sie hatte sich schnell daran gewöhnt, die Trauer um Rosie in seiner Gegenwart wegzujagen, einzusperren, zu übergehen.
Aber jetzt war sie wieder da, ungefiltert, böse, quälend. Es war schier unmöglich, sie weiterhin zu ertragen.
Der Pfarrer trat zu ihr, drückte ihr die Hand und fragte flüsternd, ob er beginnen könne. Ebba nickte. Da sie keine Anzeige in der Zeitung aufgegeben hatte, rechnete sie nicht damit, dass sich irgendjemand für dieses
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