Im Dunkel der Schuld
aus dem Kirschbaum befreit hatte oder vom Balkongitter hatte herunterholen dürfen.
»A-alles in O-ordnung«, hatte Rosie dann gesagt und mit weiÃen Lippen und aufgerissenen Augen gelächelt, statt ihrem Vater, der sie in diese Todesangst gezwungen hatte, einen Tritt ans Schienbein zu geben.
Mit Ebba hatte er irgendwann keine grausamen Spiele mehr gespielt; sie hatte sich ab dem dreizehnten Geburtstag eine Mitgliedschaft in einem Kurs für Selbstverteidigung erkämpft und nahm jedes Mal Kampfhaltung an, wenn wieder ein quälender Befehl für sie ertönte. Bruno hatte daraufhin sehr schnell seine Methode geändert und sie nicht mehr eingesperrt, sondern es ihr mit Schweigen und Nichtachtung heimgezahlt, bis sie sich irgendwann nicht mehr sicher war, ob es nicht doch besser war, richtig bestraft zu werden, als unsichtbar und unhörbar zu sein. Selbst Rosie und Georg mussten so tun, als sei sie nicht da, im Grunde war es ja auch so, als säÃe sie im Schrank und nicht am Tisch. Sie war dann oft aufgestanden, hatte das Haus verlassen und ihre Ãbungen gemacht, die sie ablenkten und beruhigten. Wenn sie im Training ihre Partner mit FuÃtritten, Handhebeln, Schulterwürfen oder KopfstöÃen auf die Matte legte, dann war sie vorhanden, und wie!
Rosie allerdings hatte den Grausamkeiten nichts entgegenzusetzen gehabt, auÃer ihrem verbindlichen Lächeln und diesem merkwürdig gestotterten »A-alles in O-ordnung«, das übersetzt eigentlich hieÃ: »Hilfe, ich wäre fast gestorben vor Angst.«
Ebba richtete sich auf ihrem Sofa auf.
»Was machst du über die Feiertage?«
»Ich â weià nicht.«
»Wie wäre es, wenn wir uns in Hamburg treffen? Ich komme morgen mit dem ersten Flugzeug. Es gibt täglich mehrere Verbindungen nach Hamburg â hast du das gewusst? Ich kann gegen acht Uhr dort sein. Dann mieten wir uns jede ein schönes Hotelzimmer, laufen um die Alster und reden mal wieder richtig.«
»Das geht nicht.«
»Warum nicht? Morgen und übermorgen haben wir beide frei.«
»Ich hab so viel zu tun. Es ist in der Weihnachtszeit alles liegen geblieben, ich komme mit der Buchhaltung nicht nach, ich habe mir vorgenommen, alles auf Vordermann zu bringen, ich â¦Â«
»Das sind doch Ausflüchte. Du hörst dich zum Erbarmen an. Ich fliege auf jeden Fall nach Hamburg. Und wenn du nicht kommst, nehme ich einen Mietwagen und bin am Mittag bei dir.«
»Um Gottes willen, nein!« Während Rosie das herausschrie, krampfte sich in Ebba alles zusammen. Das war doch nicht ihre ewig freundliche Schwester!
»Wenn du nicht willst, dass ich morgen vor deiner Tür stehe, dann sag mir jetzt die Wahrheit. Es ist dieser Mann, nicht wahr? Der Arzt. Du bist nicht glücklich.«
»So ist das nicht, Ebba, es ist komplizierter.«
»Aha. Er ist verheiratet.«
»Ebba, bitte! Das darf niemand wissen.«
»Aber warum denn nicht? Wir schreiben das Jahr zweitausendzehn. Da passiert so etwas. Das ist doch keine groÃe Affäre. Verliebt, verheiratet, geschieden, neu verliebt. So geht das heute. Oder meinetwegen verliebt, verheiratet, neu verliebt und dann geschieden â¦Â«
»Mach keine Witze darüber. Es ist alles ganz anders. Das würdest du nie verstehen.«
»Versuchâs mir zu erklären.«
»Bitte, lass mich. Wir haben schon viel zu lange telefoniert. Quäl mich nicht. Komm auf keinen Fall! Warte einfach ab. Vielleicht ist im Sommer alles überstanden, dann feiern wir alle zusammen. Hhhhh!«
»Rosie? Was ist?«
»Nichts. Ich muss Schluss machen.«
Das Telefonat brach ab.
Ebba hielt nichts mehr auf der Couch. Unruhig begann sie in der Wohnung auf und ab zu tigern. Ihre Schwester hatte ein Problem, ein gewaltiges sogar. Gleichgültig, was sie sagte oder wollte, sie, Ebba, würde dem Spuk ein Ende bereiten. Zur Not würde sie diesen Kerl hochkant aus Rosies Leben werfen. Vielleicht war sie an einen brutalen Schläger geraten, jemanden, der Bruno ähnelte. Das gab es ja oft, dass sich Opfer von Gewalt zwanghaft immer wieder in dieselbe Situation brachten, um sie wieder und wieder zu durchleben, weil sie nichts anderes kannten, als drangsaliert zu werden.
Sie ging zum Computer und buchte für den nächsten Morgen einen Flug nach Hamburg samt Mietwagen, aber ruhiger wurde sie danach nicht.
Was, wenn sich Rosie in einer so ausweglosen Situation befand,
Weitere Kostenlose Bücher