Im Dunkel der Schuld
dass sie Dinge tat, die sie nicht steuern konnte â so wie Georg oder ihre Mutter? Vielleicht gab es ja doch einen Gendefekt, vom GroÃvater übertragen. Vielleicht waren diese unverständlichen Kurzschlusshandlungen vererbbar? Wenn auch Rosie sich etwas antun würde, würde sie es sich niemals verzeihen, nicht rechtzeitig eingegriffen zu haben â oder es zumindest versucht zu haben.
Ebba packte ihre Reisetasche. Sie wollte sich mit eigenen Augen und Ohren überzeugen, dass alles in Ordnung war. Erst wenn Rosie danach immer noch in Ruhe gelassen werden wollte, sollte sie ihren Willen haben. Aber keinen Augenblick früher.
Was dachte sich Rosie eigentlich dabei, einfach aufzulegen? Sie wählte die Nummer ihrer Schwester, aber natürlich ging niemand mehr an den Apparat. Bedeutete das nun, dass Rosie in den Armen ihres geheimnisvollen Unbekannten lag oder dass sie sich vor Kummer die Augen aus dem Kopf weinte? Diese Ungewissheit war schwer zu ertragen. Am liebsten wäre sie sofort mit dem Auto losgefahren â dann hätte sie zum Frühstück vor Rosies Tür stehen können. Aber sie fühlte sich nach dem Glas Rotwein nicht mehr so ganz fahrtüchtig, zumal dicke Schneefälle für die Nacht vorhergesagt waren und sie nicht gern in der Dunkelheit fuhr. So blieb ihr nur, sich auf die Couch zu setzen und ungeduldig in die helle Nacht hinauszustarren und den Schneeflocken zuzusehen, die immer dicker wurden. Und mit einem Male war sie froh über die Stille in ihrem eigenen leeren Innern.
Zwanzig
Am nächsten Morgen war die Welt im Schnee versunken. Ebba hatte zwar schon beim Aufstehen gesehen, dass es in der Nacht tüchtig weitergeschneit hatte, aber sie war trockenen FuÃes durch die Tiefgarage zu ihrem Auto gekommen, hatte ihre Tasche verstaut und dann den Drücker für das Tor betätigt. Das hob sich langsam â und davor stand eine weiÃe Wand. Erst jetzt begann sie das Ausmaà des Wintereinbruchs zu ahnen.
Hektisch drehte sie am Radioknopf. Unwetteralarm für ganz Deutschland. Sämtliche Flüge waren gestrichen, auch auf den groÃen Airports, Züge blieben auf freier Strecke stecken, Autobahnen waren gesperrt, nichts ging mehr.
Eingeschneit. Eingesperrt.
Ebba wurde es schlecht, während sie ihr Auto auf ihren Stellplatz zurückrangierte. Die weiÃe Wand vor der Garage war brusthoch, und es schneite immer noch. Um nicht durchzudrehen, suchte Ebba den Schneeschieber und begann, einen schmalen Pfad durch die schwere weiÃe Masse zu bahnen. Sie kam nicht weit.
Ãbelkeit kündigte einen Migräneanfall an, am liebsten hätte sie bis zum Umfallen weitergeschaufelt, aber es hatte keinen Zweck. Schnee, wohin man blickte.
Irgendwann kam der private Räumdienst und buddelte eine Bahn von der Haustür zur StraÃe frei, doch auch das nutzte niemandem etwas. Der städtische Winterdienst hatte die StraÃen mit einem falschen Streumittel zusätzlich unpassierbar gemacht. Alle Wege waren zur Rutschpartie geworden, der Schnee war wie Beton und lieà sich nicht mehr zur Seite räumen.
Sie kam nicht fort, weder zu Fuà noch per Bus oder mit dem Taxi.
»Bleiben Sie zu Hause«, hörte Ebba entnervt auf allen Kanälen, im Internet und im Fernsehen.
»Das geht nicht, dies ist ein Notfall«, hätte sie den Moderatoren am liebsten zugerufen.
Hinzu kam, dass Rosie nicht ans Telefon ging. Ebba schwankte zwischen Verärgerung und tiefer Besorgnis. Ihre Schwester konnte sich doch denken, dass sie vor Sorgen fast verrückt wurde â warum meldete sie sich nicht?
Eigentlich gab es nur zwei Erklärungen: Entweder war ihr etwas passiert, oder dieser ominöse Unbekannte unterzog sie einer kompletten Gehirnwäsche.
Am Sonntagabend bekam sie wenigstens Inken Sörensen an den Apparat, die berichtete, dass der Schnee auch den Norden fest im Griff hatte. Sie selbst war gerade von einem Kaffeebesuch bei ihren Eltern im Nachbardorf zurückgekehrt, der unplanmäÃig mehr als einen Tag und eine Nacht gedauert hatte. Sie weigerte sich, noch einmal loszufahren, nur um in Arnis vielleicht â beziehungsweise ziemlich sicher â vor verschlossener Tür zu stehen.
»Wenn sie nicht ans Telefon geht, ist es entweder kaputt, oder sie will nicht gestört werden, oder sie ist verreist«, stellte sie näselnd fest.
»Verreist? Mit dem Arzt vielleicht?«
»Arzt? Ist sie krank? Soll ich einen
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