Im Glanz der roten Sonne Roman
es ein andermal nach«, sagte sie rasch und versuchte dasGefühl der Kränkung zu unterdrücken, das sie jedes Mal überkam, wenn Eve sie verleugnete.
Gaby wandte sich um und ging zu Letitia zurück. »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so unabhängig ist wie Eve«, sagte sie. »Nie lässt sie sich helfen.«
Beinahe hätte Letitia gesagt, dass Evangeline schon immer sehr selbstständig gewesen war, schon als kleines Mädchen. Egal wie sehr sie ihrer Behinderung wegen unter Schmerzen gelitten hatte oder wie schwer ihr das Krabbeln und Laufen gefallen war, sie hatte immer schon darauf bestanden, alles ohne fremde Hilfe zu tun. Letitia war es deshalb aber nicht leichter gefallen, sie abzugeben, im Gegenteil – sie hätte ihren rechten Arm geopfert, hätte Eve sie gebraucht.
Irgendwo draußen rief einer von Gabys Söhnen nach seiner Mutter.
»Entschuldigen Sie mich, Letitia«, sagte Gaby und eilte zur Hintertür.
»Lassen Sie sich nur Zeit! Ich komme schon zurecht!«
Von der Hintertür aus hörte Letitia zu, wie Gaby einen Streit zwischen den beiden Jungen schlichtete und erklärte, mit ihnen zum Fluss zu gehen, damit sie sich dort waschen konnten. Da Gaby nun für eine Weile fort war, konnte Letitia der Versuchung nicht widerstehen, die Treppe hinaufzusteigen, um Eve zu sehen, die wieder in dem Zimmer verschwunden war, in dem sie arbeitete.
Als Letitia das Zimmer betrat, sah sie ihre Tochter auf allen vieren am Boden. Mühsam wischte Eve die verschüttete Farbe auf. Mitleid überkam Letitia.
»Oje, was für ein Schmutz«, sagte sie.
Eve blickte auf, überrascht, Letita zu sehen. »Was tust du denn hier?«, fragte sie kühl. »Wo ist Gaby?«
Der unfreundliche Empfang kränkte Letitia, doch sie konnte verstehen, dass ihre Anwesenheit im Haus Eve nervös machte. »Gaby ist draußen und kümmert sich um einen derJungen. Keine Sorge, Evangeline, ich werde nichts sagen, was dich verraten könnte.«
»Das könnte dir aus Versehen passieren«, erwiderte Eve.
»Bestimmt nicht. Ich gebe dir mein Wort, Evangeline, dass ich aufpasse.«
»Ehrlich gesagt, Mutter, habe ich wenig Vertrauen in dein Wort. Du kannst dir ja nicht einmal merken, dass ich es nicht ausstehen kann, Evangeline genannt zu werden!« Eve rappelte sich mühsam auf und warf die mit Farbe vollgesogenen Lappen in einen Eimer.
Letitia bemerkte, dass Eve stark hinkte und offenbar Schmerzen hatte. »Deine Hüfte macht dir zu schaffen, nicht wahr?«
Eve schaute sie an, eine bissige Bemerkung auf der Zunge. Dann aber murmelte sie nur: »Es ist das Wetter ...«, erstaunt darüber, dass Letitia so rasch erkannt hatte, was ihr fehlte.
»Lass mich dir helfen, die Farbe wegzuwischen.« Letitia trat ins Zimmer und blieb vor der Farbpfütze stehen.
Eve bemerkte ihr Zögern. »Du machst dir dein teures Kostüm schmutzig«, sagte sie spöttisch. »Das ist die Sache doch nicht wert.«
Letitia zuckte zusammen, als hätte Eve sie geschlagen. Sie wusste, dass die Feindseligkeit ihrer Tochter mehr mit der Vergangenheit zu tun hatte als mit Eves Angst, Jordan könne herausfinden, dass sie eine Courtland war. »Du wirst mir nie verzeihen, Eve, nicht wahr?«
Eve wusste sofort, was ihre Mutter meinte. »Nein. Jedenfalls so lange nicht, bis ich eine zufrieden stellende Erklärung dafür bekomme, warum ihr mich nicht selbst erzogen habt. Und ich bezweifle, dass das jemals geschehen wird.«
Letitia öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch in diesem Moment hörte sie unten Gaby nach ihr rufen.
»Ich komme, Gaby«, rief sie zurück. Dann blickte sie in Eves vor Trotz versteinertes Gesicht und fragte sich, ob siejemals den Mut aufbringen würde, ihr die Wahrheit zu sagen.
Als Gaby und Letitia sich einige Zeit später der Arbeiterbaracke näherten, hörten sie Hämmern und Sägen. Letitia fiel auf, dass das Gras vor dem Gebäude erst vor kurzem gemäht worden war, und sie sah, dass die Schatten spendenden Mango- und Papayabäume und die Bananenstauden ordentlich beschnitten waren. In der Nähe gab es einen gepflegten Gemüsegarten und einen neuen Hühnerstall. Die alte Arbeiterbaracke bildete einen tristen Kontrast zur Umgebung.
An der Tür der Baracke blieben die Frauen stehen und blickten hinein. Der Raum war sauber und roch nach frisch geschlagenem Holz: Frankie war gerade dabei, neue Betten zu bauen. Gaby erklärte Letitia, sie hätten die ursprünglichen Wände und den Boden geschrubbt, dabei jedoch Termitenschäden entdeckt, worauf Frankie das Zimmer mit
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