Im Hauch des Abendwindes
eine hilflose Geste. »Wir sind viel zu verschieden.« Sie versuchte, in seiner Miene zu lesen, ob er wirklich nicht gekränkt war.
Er ließ sie nicht weiterreden. »Ich hab schon verstanden, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Wir haben am Lagerfeuer gesessen und Wein getrunken und uns von der Stimmung des Augenblicks mitreißen lassen. Kein Problem, schon vergessen. Tun wir einfach so, als wär’s nie passiert.«
Ruby seufzte erleichtert auf, doch dann spürte sie Enttäuschung. So einfach war das also – man tat, als sei nichts passiert.
»Gut«, gab sie zurück.
»Konzentrieren wir uns auf den Zweck unserer Reise«, fügte Jed hinzu. »Silver Flake soll in Alice Springs starten, alles andere ist im Moment unwichtig.«
Ruby nickte, kaute aber nervös an ihrer Unterlippe. Abermals erfasste sie ein unbehagliches Gefühl. Was würde erst geschehen, wenn sie Jed gestand, dass sie niemals Kontakt zu Rick Paget aufgenommen hatte.
Am anderen Morgen ließen sie South Australia hinter sich.
»Wir sind jetzt im Northern Territory«, sagte Jed. »Alice Springs liegt im Herzen Australiens. Red Centre, roter Mittelpunkt, sagen die Einheimischen. Von dort ist es genauso weit nach Adelaide wie nach Darwin, der größten Stadt im Northern Territory.«
Ruby hörte zu, sagte aber nichts.
Zwei Stunden später passierten sie die Heavitree Gap in den MacDonnell Ranges, einem sechshundertvierundvierzig Kilometer langen Gebirgszug. Dann erreichten sie endlich Alice Springs. Die achttausend Einwohner zählende Stadt breitete sich auf dem flachen Land über etliche Quadratkilometer aus. Die kleinen, zum Teil von niedrigen Drahtzäunen eingefriedeten Häuser lagen an breiten, staubigen Straßen, an denen kein Baum wuchs und so gut wie kein Grün zu sehen war. Es war so heiß, dass man auf dem Asphalt ein Spiegelei hätte braten können. Rubys Nervosität hatte sich ins Unerträgliche gesteigert. Sie nahm die Geschäfte und Hotels im Stadtzentrum kaum wahr.
»Der Todd River führt mitten durch die Stadt, aber wenn man hineinfällt, wird man nicht nass – man muss sich den Staub von den Kleidern klopfen«, meinte Jed. »Wenn der hiesige Arrente-Clan in die Stadt kommt, schlägt er sein Lager oft im Flussbett auf.«
Es hielten sich in der Tat viele Ureinwohner in der Stadt auf, Ruby hatte nirgendwo sonst mehr gesehen als hier. Aber mit ihren Gedanken war sie ganz woanders. Wie sollte sie Jed beichten, dass sie ihn belogen hatte?
Die Pferderennbahn befand sich auf der anderen Seite der Stadt. Dort angekommen, brachte Jed die Stute in eine der zahlreichen Boxen, die fast alle schon belegt waren. Ruby schlenderte unterdessen umher, schaute sich die Pferde an und tätschelte das eine oder andere. Das Rennen fand am darauffolgenden Tag statt, und jeder, der sich auf dem Gelände aufhielt, hatte irgendwie damit zu tun: Pferdebesitzer, Trainer, Stallburschen, Gehilfen. Ruby vergewisserte sich, dass Jed mit Silver Flake beschäftigt war, und ging langsam weiter, bis sie einen Stallburschen sah, der Wasser in Eimer füllte und in den Boxen Stroh ausschüttete. Sie fragte ihn, ob er ihr sagen könne, wo sie für das morgige Rennen einen Jockey herbekäme.
Der junge Mann sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »So kurz vor dem Rennen? Unmöglich!«
Ruby hätte fast mit dem Fuß aufgestampft, so frustriert war sie. »Aber irgendein Jockey wird doch noch frei sein!«
»Das bezweifle ich«, meinte der Bursche kopfschüttelnd. »Die guten Jockeys sind schon längst gebucht.«
»Vielleicht gibt es ja ein Pferd, das nicht starten kann. So was passiert doch, oder?«
»Ja, sogar ziemlich oft.«
Rubys Miene hellte sich auf. »Wissen Sie zufällig, ob ein Pferd von der Startliste gestrichen wurde?«
»Meines Wissens ist diesmal keins gestrichen, tut mir leid.«
Ruby seufzte. »In welchem Hotel steigen die Jockeys denn ab?«
»Keine Ahnung. Als Stallbursche kann man sich kein Hotel leisten. Fragen Sie den Herrn dort, den in dem weißen Hemd mit dem hellbraunen Hut.« Er zeigte auf einen Mann ein paar Boxen weiter. »Das ist Mr. Franklin. Ihm gehört eines der Pferde, die morgen an den Start gehen; vielleicht kann er Ihnen weiterhelfen.«
Ruby bedankte sich und ging auf den Mann zu. »Guten Morgen, Mr. Franklin. Mein Name ist Ruby Rosewell. Man hat mir gesagt, Sie wüssten vielleicht einen Jockey, der für das Rennen morgen noch nicht engagiert ist.«
Der Mann sah sie genauso erstaunt an wie der Stallbursche. »Tut mir
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