Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
christlichen Priestern davon erfahren hatte und vom byzantinischen Kaiser eine Kopie anforderte. [28] Die Qualität der für al-Mansur angefertigten arabischen Übersetzung der Elemente ist jedoch zweifelhaft, und das Gleiche gilt für die Frage, wie nützlich sie für die Mathematiker der frühen Abasssidenzeit war.
In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts ging die Übersetzungsbewegung schließlich zu Ende. Das lag nicht daran, dass die Gelehrsamkeit einen Niedergang oder einen Interessenverlust erlitten hätte; vielmehr war mittlerweile einfach ein Stadium erreicht, in dem keine Übersetzungen mehr gebraucht wurden. Alle großen Werke lagen nun auf Arabisch vor, waren mehrfach übersetzt, studiert und kommentiert; als es so weit war, traten eigenständige arabische Werke an ihre Stelle, welche die Wissenschaft nochmals weiter voranbrachten. Einige der größten griechischen Texte, darunter Ptolemäus’ Almagest , galten nicht mehr als »zeitgemäß« und wurden durch weiter entwickelte astronomische Werke verdrängt. Zu jener Zeit war der kollektive Wissenschaftsbetrieb fest in der kulturellen Atmosphäre Bagdads mit gelehrtem Mäzenatentum und Konkurrenz verankert.
Der größte Wissenschaftler des Islam jedoch lebte eine Generation vor dieser Zeit. Sein Leben und seine Leistungen sind geheimnisumwittert und umstritten. Im Westen ist er unter dem Namen Geber der Alchemist bekannt.
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Der einsame Alchemist
Wir können uns fragen, was Leute wie Gauß oder Faraday gemacht hätten, wenn sie im 8. oder 9. Jahrhundert geboren wären und nicht auf die Bemühungen der Menschen aus weiteren 1000 Jahren hätten zurückgreifen können.
George Sarton
Viele große Wissenschaftler des Goldenen Zeitalters waren keine Araber, sondern Perser. Alle schrieben aber ihre Werke auf Arabisch, der Amtssprache des Reiches. Dies ist heute für Iraner und andere zentralasiatische Muslime ein Anlass für beträchtliche Empfindlichkeiten: Sie sind verständlicherweise nicht erbaut, wenn ihre Helden fälschlicherweise für Araber gehalten werden (und insbesondere wenn den Namen der arabische bestimmte Artikel »al« beigefügt wird). Um deutlich zu machen, wie schwierig es manchmal ist, die Wurzeln und Herkunft vieler dieser Gestalten zu klären, ist es vielleicht nützlich, wenn ich meinen eigenen, ein wenig verschwommenen ethnischen Hintergrund erläutere.
Die al-Khalilis (Al-Khalilis) [29] sind eine schiitische Familie aus den Städten Najaf und Kufa im Irak. Ihre starken persischen Wurzeln reichen über 200 Jahre zurück. Mein Urururgroßvater Merza Khalil, nach dem die Familie benannt ist, war ein bekannter Arzt aus Teheran und hatte ursprünglich in der Stadt Qum studiert, um Imam zu werden. Er begab sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf eine Pilgerreise nach Mekka. Seine Reise fiel mit der des osmanischen Wali von Bagdad zusammen, der die Verwaltung großer Teile des heutigen Irak leitete und unterwegs krank wurde. Man rief Khalil, damit er den Herrscher mit geeigneten Kräuterarzneien, für die er eine bekannte Autorität war, behandelte. Nachdem der Wali wieder genesen war, lud er ihn ein, sich im Irak niederzulassen, was er 1799 tat. Muhammad, der Älteste seiner sechs Söhne, blieb im Iran und brachte es in der Medizin zu noch größerem Ansehen als sein Vater: Er wurde Leibarzt des Schah Nasr al-Din Qajar (1831–1896), was ihm den Titel Fakhr al-Atibba (»Stolz der Ärzte«) einbrachte. Dies ist natürlich für alle in der Familie al-Khalili ein Anlass großen Stolzes, denn Schah Nasr al-Din war einer der größten Herrscher in der persischen Geschichte. Als großer Reformer führte er im Iran den Postdienst, die Eisenbahn und Zeitungen ein. Als der Schah 1873 in Begleitung meines Ururgroßonkels Muhammad nach Großbritannien reiste, wurde er von Königin Victoria zum Ritter des Hosenbandordens ernannt, des höchsten englischen Ritterordens.
3.
Muhammad al-Khalili, der Ururgroßonkel des Autors, im 19. Jahrhundert Leibarzt des reformorientierten Schah Nasr al-Din Qajar.
Ich stamme von zwei anderen Söhnen von Khalil ab: Baqir aufseiten meines Großvaters und Merza Hussein aufseiten meiner Großmutter. Letzterer – das zu erzählen, finde ich jedes Mal faszinierend – war Ende des 19. Jahrhunderts der geistliche Führer vieler Millionen schiitischer Muslime im osmanischen Irak, Persien, Libanon und Indien. Er war in der Stadt Najaf ansässig, gehörte zur Gruppe der mujtahid (Geistliche mit der Autorität, den Koran
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