Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Kolumbus die Neue Welt, weil alle glaubten, die Erde sei flach. In Wirklichkeit hatten schon die alten Griechen herausgefunden, dass sie eine Kugel ist. Für Pythagoras lag dies im 6. Jahrhundert v.u.Z. aus rein ästhetischen Gründen auf der Hand: Die Götter hatten doch die Erde sicher als vollkommene Kugel erschaffen, die angenehmste der mathematischen Formen. Dieses Modell wurde später auf Grundlage konkreter Befunde von Platon, Aristoteles und Archimedes übernommen. Mit einer flachen Erde konnte man beispielsweise nicht erklären, wie der Polarstern am Himmel immer tiefer sinken konnte, je weiter man nach Süden reist, bei einer gebogenen Oberfläche war dies jedoch leicht zu begründen. Man war sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hatte grobe Annahmen über die Größe der Erde gemacht. Aristoteles beispielsweise nannte für ihren Umfang einen Wert von 400 000 Stadien, Archimedes schätzte ihn auf 300 000 Stadien. Da ein Stadion ungefähr 160 Metern entspricht, sind diese Zahlen gleichbedeutend mit rund 64 000 und 48 000 Kilometern – nicht allzu weit entfernt von dem tatsächlichen Wert von 40 000 Kilometern. Selbst Plato, den ich nicht für einen so guten Wissenschaftler halte wie Aristoteles oder Archimedes, lieferte eine bemerkenswerte Beschreibung unseres Planeten als große, im Raum schwebende Kugel: »Man sagt also zuerst, o Freund, diese Erde sei so anzusehen, wenn sie jemand von oben herab betrachtete, wie die zwölfteiligen ledernen Bälle, in so bunte Farben geteilt, von denen unsere Farben hier gleichsam Proben sind, alle die, deren sich die Maler bedienen.« [74] Platon wusste nicht nur, dass die Erde eine Kugel ist, sondern seine Beschreibung ihrer Oberfläche als »in bunte Farben geteilt« beschwört sogar die Bilder herauf, die uns heute so vertraut sind: unser Planet, aus dem Weltraum gesehen, mit seinen Wettererscheinungen, ihren Wirbeln über dem Meer, seinen Wüsten und schneebedeckten Gebirgen.
Was die Größe angeht, so gelangte ein anderer griechischer Gelehrter zu dem Schluss, dass er es nicht bei klugen Vermutungen belassen musste. Er glaubte, er könne den Umfang tatsächlich messen. Sein Name war Eratosthenes (ca. 275–195 v.u.Z.); er war nicht nur der Leiter der Bibliothek von Alexandria, sondern auch ein ausgezeichneter Astronom und Mathematiker. Seine Methode zur Berechnung des Erdumfangs war, wie so viele große wissenschaftliche Ideen, von wunderschöner Einfachheit: Wenn er auf der Erdoberfläche die Entfernung messen konnte, die einem der 360 Grad ihres Umfangs entspricht, musste er diesen Wert nur noch mit 360 multiplizieren.
Er wusste, dass die Mittagssonne am längsten Tag des Jahres, der Sommersonnenwende, in Syene (dem heutigen Assuan) im Süden Ägyptens senkrecht bis zum Boden eines Brunnens fiel. Ebenso hatte er beobachtet, dass die Sonne am gleichen Tag jedes Jahres im nördlich gelegenen Alexandria nicht genau senkrecht am Himmel stand; ihre Strahlen fielen vielmehr in einem Winkel zur Erde, der ungefähr einem Fünfzigstel eines Kreises entsprach (also 1/50 von 360 Grad oder 7,2 Grad). Er nahm an, Syene liege genau südlich von Alexandria, und wenn er die Entfernung zwischen den beiden Städten kannte, brauchte er nur noch diesen Wert mit 50 zu multiplizieren, um zum Erdumfang zu gelangen. Wie er das im Einzelnen anstellte, ist nicht bekannt, aber offensichtlich ließ er jemanden von Alexandria nach Syene gehen und dabei die Schritte zählen! Ihm wurde berichtet, die Entfernung betrage genau 5000 Stadien (ungefähr 800 Kilometer). Damit gelangte er zu einem Wert von 250 000 Stadien oder 40 000 Kilometern für den Erdumfang – eine Zahl, die so nahe an die moderne Messung von 40 024 Kilometern herankommt, dass es kleinlich und pedantisch erscheinen würde, darin einen Fehler zu suchen.
In Wirklichkeit hatte Eratosthenes großes Glück, dass er der Wahrheit so nahe kam. Seine Methode war mit einer Reihe schwerwiegender Fehler, Ungenauigkeiten und grober Schätzungen behaftet, die zufällig so zusammenwirkten, dass er nahezu die richtige Antwort fand. Zur Sommersonnenwende steht die Mittagssonne zwar am nördlichen Wendekreis tatsächlich senkrecht über uns am Himmel, die Stadt Syene liegt aber nicht auf dem Wendekreis, sondern rund 35 Kilometer nördlich davon; außerdem liegt sie auch nicht genau südlich von Alexandria. Was aber am wichtigsten ist: Es war unmöglich, die Entfernung zwischen den beiden Städten auch nur annähernd genau zu ermitteln.
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