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Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)

Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)

Titel: Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim al-Khalili
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Das Zählen von Schritten ist eine unzuverlässige Methode, und der Weg wäre aller Wahrscheinlichkeit nach dem gewundenen Lauf des Nils gefolgt, wobei die komplizierten geographischen Verhältnisse im Delta rund um Alexandria eine Rolle gespielt hätten. Und schließlich kennen wir die genaue Länge der Maßeinheit Stadion nicht; ich nenne ungefähr 160 Meter, aber das ist nur eine Näherung. Und dass die Zahl der Schritte genau 5000 Stadien ausmachen sollte, ist ohnehin verdächtig; deshalb glauben die meisten heutigen Historiker, dass Eratosthenes die Entfernung nie auf diese Weise maß, sondern unwissentlich für die Entfernung einen Wert verwendete, der seinerseits aufgrund einer früheren Schätzung des Erdumfangs berechnet worden war; [75] es handelt sich also um eine Art Zirkelschluss: Eine Schätzung des Erdumfangs dient zur Ermittlung einer Entfernung, die dann ihrerseits zur Neuberechnung des Erdumfangs dient.
    Machen wir nun einen Sprung von 1000 Jahren ins Bagdad der Abassiden und zu der Gruppe von Astronomen, die für al-Ma’mun tätig waren. Sie kannten Eratosthenes’ Methode aus den Schriften von Ptolemäus. Dieser hatte einen späteren, neu ermittelten, aber falschen Wert für den Erdumfang angegeben, nämlich 180 000 Stadien, die ein weiterer griechischer Astronom namens Posidonius ermittelt hatte. [76] Zehn Jahre nachdem al-Ma’mun nach Bagdad gekommen war, wollte er wissen, was das alles zu bedeuten hatte: Wie lang war eigentlich ein griechisches Stadion genau? In dieser Frage waren sich nicht alle einig. Das erforderte ein weiteres Projekt für die Gefährten der bestätigten Tabellen.
    Al-Ma’mun entsandte eine Gruppe, zu der seine führenden Astronomen Sanad, Yahya, al-Janhari und Khalid al-Marwarrudhi gehörten, zusammen mit Zimmerleuten und Metallarbeitern in die Nordwestecke des heutigen Irak, genauer gesagt in die flachen Ebenen von Sinjar ungefähr 110 Kilometer westlich von Mosul. Dort teilte sich die Gruppe in zwei Teams auf, die sich in entgegengesetzten Richtungen auf den Weg machten, die eine genau nach Norden, die andere genau nach Süden. Unterwegs zählten sie ihre Schritte und steckten Pfeile als Markierung in den Boden. Sie blieben stehen, wenn sie, nach der Position der Sterne zu urteilen, einen Winkel von einem Grad der Erdkrümmung zurückgelegt hatten. Dann kehrten beide Gruppen um und maßen die Entfernung zum Ausgangspunkt noch einmal. Man errechnete den Durchschnittswert aller Messungen mit 56,6 arabischen Meilen. Eine arabische Meile oder mil entspricht ungefähr 1,9 Kilometern, die ermittelte Entfernung betrug also rund 108 Kilometer. Multipliziert man diese Zahl mit 360, so erhält man einen Wert von 38 880 Kilometern, einen mehr oder weniger ebenso zutreffenden Wert wie den, zu dem Eratosthenes 1000 Jahre zuvor gelangt war.
    Als guter Wissenschaftler gab al-Ma’mun daraufhin eine weitere Expedition in Auftrag, die eine zweite Messung vornehmen sollte, dieses Mal in der syrischen Wüste. Seine Astronomen gingen von der Stadt Palmyra in Zentralsyrien aus und maßen die Entfernung bis zu der Stadt Ar-Raqqah im Norden. Dabei stellten sie fest, dass die beiden Städte um einen Breitengrad und 66,6 mil voneinander entfernt waren; daraus errechnete sich ein größerer Umfang von 24 000 mil oder 45 600 Kilometern.
    Natürlich ist das ganze Vorhaben bewundernswert, aber die vielen Zahlen stifteten nur noch mehr Verwirrung. Offenbar lagen alle in der richtigen Größenordnung, und vermutlich ist es witzlos, jene besonders zu würdigen, die dem wahren Wert am nächsten kamen. Al-Ma’muns Astronomen mussten sich mit den gleichen Problemen herumschlagen wie Eratosthenes. So liegt beispielsweise Ar-Raqqah in Wirklichkeit 1,5 Breitengrade nördlich von Palmyra, aber auch ungefähr einen Längengrad weiter östlich. Und ohnehin beträgt die wirkliche Entfernung zwischen den beiden Städten mehr als 160 Kilometer (ungefähr 90 mil ). Die genannten Zahlen wurden von vielen Historikern und Geographen in der Geschichte immer wieder zitiert, aber keiner von ihnen hatte eine genaue Vorstellung davon, wie lang ein Stadion oder eine mil eigentlich ist. Selbst Marco Polo und Christoph Kolumbus griffen auf sie zurück, aber von der Verwirrung um die Maßeinheiten abgesehen (die Entdecker wussten nicht einmal, dass zwischen einer römischen und einer arabischen Meile ein Unterschied besteht), zitierten sie oft unwissentlich al-Farghani, der Ptolemäus zitierte, der Posidonius zitierte, der

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