Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Eratosthenes zitierte.
Aber der erstaunliche Sanad ibn Ali hatte noch einen weiteren Kunstgriff im Ärmel. Wie der große muslimische Universalgelehrte al-Biruni im 11. Jahrhundert in seiner berühmten Abhandlung Die Ermittlung der Koordinaten von Städten ( Kitab Tahdid al-Amakin ) berichtet, hatte Sanad dem Kalifen al-Ma’mun eine viel bessere Methode zur Messung des Erdumfangs vorgeschlagen, bei der man nicht durch heiße Wüsten trotten und Schritte zählen musste. Als er al-Ma’mun um 832 auf einem seiner Feldzüge [77] gegen den byzantinischen Kaiser Theophilus begleitete, soll Sanad den Trick vorgeschlagen haben, auf einen Berg zu steigen, von dem aus man das Meer überblickte, und dann den Neigungswinkel zum Horizont zu messen. Aus diesem Wert und der bekannten Höhe des Berges konnte man mit rudimentären geometrischen Mitteln zwar nicht den Umfang der Erde, aber ihren Radius berechnen. Und natürlich ist es einfach, diese Zahl mit 2 π zu multiplizieren und so zum Umfang zu gelangen.
Al-Biruni war aber auch bekannt für seine Bescheidenheit: Er überließ das Verdienst gern anderen, und außer seinen Aufzeichnungen enthält keine Quelle einen Anhaltspunkt dafür, dass Sanad das beschriebene Experiment tatsächlich ausführte. Bekanntermaßen bedurfte es des noch größeren Genies al-Biruni, die Messung sorgfältig vorzunehmen und die Diskussion über die Größe der Erde ein für alle Mal beizulegen. Aber diese Geschichte muss einem späteren Kapitel vorbehalten bleiben.
Das dritte spektakuläre Vorhaben, das al-Ma’muns Gelehrtenteam in Angriff nahm, war das ehrgeizigste von allen. Ein weiteres bekanntes Werk von Ptolemäus war die Geographia . Darin fasste er alles zusammen, was zu seiner Zeit über die Geographie der Erde bekannt war; zu großen Teilen stützte er sich dabei auf die Arbeit des älteren Geographen Marinus von Tyros (70–130 u.Z.): Dieser war auf die Idee gekommen, Koordinaten mit Längen- und Breitengraden zu verwenden, wobei die Null-Linie der geographischen Länge als »Nullmeridian« durch die Kanarischen Inseln verlief, während er für Messungen der Breite eine parallel zu Rhodos verlaufende Linie verwendete. Die Geographia von Ptolemäus wurde von einer Gelehrtengruppe im Haus der Weisheit mit al-Khwarizmis Hilfe ins Arabische übersetzt und war offenbar der Schlüssel, der in der Frühzeit des Islam das Interesse an Geographie weckte. Auch hier erkennen wir wieder al-Ma’muns Kühnheit und Selbstsicherheit. Nachdem es zwei neue Observatorien gab, der Erdumfang bestätigt war und seine Gelehrten in Geometrie und Algebra sehr schnell neue Methoden entwickelten, gab er die Erstellung einer neuen Weltkarte in Auftrag. Schließlich enthielt Ptolemäus’ Karte keine wichtigen islamischen Städte wie Mekka oder Bagdad; erstere war seinerzeit noch nicht wichtig genug gewesen, und die zweite hatte es noch gar nicht gegeben. Al-Ma’muns Astronomen hatten die Entfernung zwischen den beiden Städten ermittelt, indem sie bei einer Mondfinsternis Messungen vornahmen; sie gelangten zu einem Wert von 712 mil , was noch nicht einmal um zwei Prozent von der tatsächlichen Entfernung abweicht.
Nun gingen al-Ma’muns Gelehrte daran, die Koordinaten vieler wichtiger Orte in der bekannten Welt neu zu berechnen, und dabei fanden sie sehr schnell Abweichungen von Ptolemäus’ Werten. Also zeichnete man eine neue Karte, die gegenüber der von Ptolemäus wichtige Verbesserungen enthielt. Sie zeigte den Atlantischen und Indischen Ozean nicht als von Land umgebene Meere, wie Ptolemäus es vermutet hatte, sondern als offene Gewässer. Die Griechen hatten zwar gute Kenntnisse über geschlossene Meere wie das Mittelmeer unter Beweis gestellt, von den großen Ozeanen jenseits davon verstanden sie jedoch wenig, während arabische Kaufleute zur Zeit al-Ma’muns bereits darüber berichten konnten. Die Landkarte korrigierte auch die von Ptolemäus gewaltig überschätzte Länge des Mittelmeers von 63 Längengraden und gab sie stattdessen mit 50 Längengraden wieder, was dem tatsächlichen Wert wesentlich näher kommt. Leider existiert diese Karte aus der Abassidenzeit heute nicht mehr, und sie einigermaßen zuverlässig zu rekonstruieren erwies sich als schwierig. Unsere Kenntnisse über sie stammen vor allem aus einer zur gleichen Zeit entstandenen Abhandlung mit dem Titel Bild der Erde ( Surat al-Ard ). Dieses Werk wurde keinem Geringeren als al-Khwarizmi selbst zugeschrieben; er spielte offenbar in
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