Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
was al-Razis Tätigkeit als praktischer Arzt anging, berichtete mir mein Bekannter Peter Pormann, ein führender Experte für Medizingeschichte. Er erzählt, wie al-Razi eine der ältesten bekannten klinischen Studien durchführte und dazu auch eine Kontrollgruppe benutzte. [129] Al-Razi wählte zunächst zwei Gruppen von Patienten aus, die alle die ersten Symptome einer Hirnhautentzündung (Meningitis) zeigten: dumpfe, mehrere Tage anhaltende Schmerzen in Nacken und Kopf, Schlaflosigkeit, Erschöpfungszustände und eine Abneigung gegen helles Licht. Die Patienten der einen Gruppe behandelte er mit Aderlass, die der anderen nicht. Dazu schrieb er: »Indem ich dies tat, wollte ich zu einer Schlussfolgerung [über die Wirksamkeit des Aderlasses] gelangen; und tatsächlich erkrankten alle in der zweiten Gruppe an Meningitis.« [130] Der Aderlass, weltweit eines der ältesten medizinischen Verfahren, geht auf die Zeit der alten Ägypter, Babylonier und Griechen zurück; heute wissen wir, dass er den Patienten in vielen Fällen schadet, und im Fall der Hirnhautentzündung lässt sich sicher kein Nutzen nachweisen. Zu al-Razis Gunsten sollten wir aber daran denken, dass sowohl Galen als auch Hippokrates die Methode empfahlen und dass sie bei den Ärzten bis ins späte 19. Jahrhundert hinein in Gebrauch war. George Washington, der erste Präsident der Vereinigten Staaten, starb sogar, nachdem man zur Behandlung einer Lungenentzündung einen übermäßigen Aderlass durchgeführt und ihm nahezu zweieinhalb Liter Blut entnommen hatte. Noch heute ist der Aderlass auf der ganzen Welt im Rahmen mancher ganzheitlicher Therapieverfahren im Gebrauch, unter anderem auch in der islamischen Welt: Dort gehört er zur Prozedur des »Schröpfens« ( hijamah ), und das trotz aller Fortschritte der modernen Medizin, die seine völlige Wirkungslosigkeit nachgewiesen hat.
Das Entscheidende an dieser Geschichte: Sie zeigt, dass man sich etwas unter einer Kontrollgruppe bei einer Erprobung vorstellen konnte und dass al-Razi Prinzipien der empirisch-medizinischen Forschung verpflichtet war. Er stellte sich sogar gegen den großen Galen: In seinem ausgezeichneten Werk al-Shukuk ala Jalinus ( Zweifel an Galen ) setzt er sich kritisch mit der griechischen Lehre der vier Körpersäfte auseinander. Leider verfolgte man seine Arbeiten nicht weiter, und später wurde die Theorie der Körpersäfte durch Ibn Sina wieder zur medizinischen Standardlehre. Dass Millionen gebildete, säkulare Menschen im Westen im Rahmen der Alternativmedizin immer noch an solchen Vorstellungen hängen, ist enttäuschend. Es wäre schön, wenn es heute einen al-Razi gäbe; angesichts unserer modernen medizinischen Kenntnisse und seiner leidenschaftlichen Verurteilung der medizinischen Quacksalberei und ihrer Gefahren wäre er verblüfft, dass solche Gedanken noch verbreitet sind. Nur weil derartige Praktiken und Überzeugungen über Jahrtausende bis in die griechische Antike, nach Indien oder China zurückreichen, müssen sie nicht stimmen. Al-Razi wusste das und hatte auch den Mut, es auszusprechen, wenn er bemerkte, dass eine bestimmte Methode nicht funktionierte. In seinen Aufzeichnungen hielt er beispielsweise fest, dass er nicht mit Galens Beschreibung des Verlaufs einer fiebrigen Erkrankung übereinstimmte. Er lehnte den zentralen Gedanken der griechischen Säftetheorie ab, wonach die Körpertemperatur steigt oder sinkt, wenn der Patient warme oder kalte Flüssigkeiten trinkt; wie al-Razi erkannte, lässt ein warmes Getränk die Körpertemperatur unter Umständen über die Temperatur der Flüssigkeit hinaus ansteigen; er musste also vermuten, dass der Anstieg beim Patienten nicht nur auf die einfache Übertragung von Wärme zurückzuführen war, sondern durch eine kompliziertere physiologische Reaktion ausgelöst wird. Dennoch zögerte al-Razi häufig, Galen zu kritisieren, denn andere Ärzte warfen ihm vielfach Arroganz vor, weil er es wagte, Zweifel an der großen Persönlichkeit zu äußern.
Eine andere Fallstudie verschafft uns eine Ahnung davon, was für Naturarzneien zur Zeit al-Razis in Gebrauch waren. In seiner Abhandlung über Pocken und Masern beschäftigt er sich insbesondere mit dem Schutz der Augen – pockenbedingte Hornhautschäden waren im Mittleren Osten bis in relativ moderne Zeit eine wichtige Ursache der Blindheit:
Sobald die Symptome der Pocken auftreten, träufle von Zeit zu Zeit Rosenwasser in die Augen und wasche das Gesicht mit kaltem Wasser.
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