Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Aufenthalts reicht nur aus, um einen kleinen Teil davon abzuschreiben.« Dann sagte der junge Mann: »Ich bitte dich, widme dich mir für die Länge meines Aufenthaltes und diktiere mir, so schnell du kannst. Ich werde beim Schreiben mit dir Schritt halten.« [135]
Ob al-Razi der Bitte nachkam, berichtet al-Nadim nicht.
Bisher habe ich vielleicht den Eindruck vermittelt, als hätte sich alles im Machtzentrum des Kalifats in Bagdad abgespielt; über die Vorgänge in anderen Teilen der islamischen Welt habe ich noch kaum berichtet. Zur Zeit al-Razis war die Abassidendynastie jedoch bereits geschwächt, und ihr Zerfall hatte eingesetzt – was zum Teil zweifellos den praktischen Schwierigkeiten bei der Verwaltung eines derart riesigen Reiches zu verdanken war.
Schon während al-Ma’muns Herrschaft hatten verschiedene persische Gruppen die militärischen Muskeln spielen lassen und im Osten eine unabhängige Herrschaft ausgeübt. Wenig später übernahmen mehrere autonome Dynastien wie die Samaniden und Saffariden in großen Teilen Persiens die Macht. Sie hatten in der Praxis den Charakter von Staaten mit erblichen Sultans- und Prinzenposten, Armeen und Steuereinnahmen. Alle erkannten offiziell die Oberherrschaft des Kalifats von Bagdad an, sie wussten aber, dass dieses innerhalb ihrer Grenzen keine wirkliche Macht mehr hatte. In der Mitte des 10. Jahrhunderts war mit dem Aufstieg des Buyiden- und Ghaznawidenreiches selbst der Anschein einer Oberherrschaft von Bagdad verschwunden. Auf diese folgten die türkischen Seldschuken, und damit war das Ende der politischen Vorherrschaft der Abassiden in der Region besiegelt.
Zu al-Razis Zeit war Bagdad eine riesige Großstadt und das Zentrum der zivilisierten Welt. Im 10. Jahrhundert jedoch hatte es an anderen Orten des Reiches auch als Dreh- und Angelpunkt der wissenschaftlichen Gelehrsamkeit bereits Rivalen. Insbesondere drei Städte, zwischen denen Tausende von Kilometern lagen, waren zu Zentren der wissenschaftlichen Aktivität und einer blühenden Gelehrsamkeit herangewachsen, mit gewaltigen Bibliotheken, großzügigen Mäzenen und berühmten Sprösslingen: Buchara (die Hauptstadt der Samanidendynastie in Zentralasien), die neue Stadt Kairo, wo ein zweites Haus der Weisheit eingerichtet wurde, und ganz im Westen des Reiches im muslimischen Spanien, wo Córdoba lange die prächtigste Stadt Europas war.
Deshalb verlassen wir jetzt Bagdad und erkunden die Reichtümer und das wissenschaftliche Erbe anderer Orte. Am Ende des 10. und Anfang des 11. Jahrhunderts beobachten wir den Zenit (auch das übrigens ein arabisches Wort [136] ) der wissenschaftlichen Leistungen. Es war das Zeitalter von drei der klügsten Köpfe der Geschichte; unter allen, die hier beschrieben werden, sind sie vermutlich die einzigen drei, die in ihrer Größe an Gestalten wie Aristoteles, Leonardo Da Vinci, Newton und Einstein heranreichen.
12
Der Prinz und der Almosenempfänger
Der halsstarrige Kritiker würde sagen: »Was ist der Nutzen dieser Wissenschaften?« Er weiß nicht, welche Tugend die Menschheit von allen Tieren unterscheidet: Es ist das Wissen im Allgemeinen, um welches sich ausschließlich der Mensch bemüht und um welches er sich um des Wissens selbst willen bemüht, weil sein Erwerb wahrhaft köstlich ist, und er ist ganz anders als die Freuden, die man sich bei anderen Unternehmungen wünscht. Denn das Gute kann nicht vorangebracht und das Böse nicht vermieden werden, außer durch Wissen. Welcher Nutzen also ist augenscheinlicher? Welcher Nutzen ist reichlicher?
Al-Biruni
Um das Jahr 1000 u.Z. fand ein berühmter Briefwechsel zwischen zwei persischen Genies statt: Sie diskutierten über das Wesen der Realität auf eine Art, die sich auch in einem modernen physikalischen Universitätsinstitut nicht deplatziert anhören würde. Unter allen großen Denkern und Universalgelehrten im Goldenen Zeitalter des Islam waren diese beiden Männer wahre Riesen: Sie waren den allerbesten Köpfen, die das Goldene Zeitalter Griechenlands hervorgebracht hatte, in jeder Hinsicht ebenbürtig. Der Jüngere der beiden war ein privilegiertes Wunderkind gewesen und wurde im Heranwachsen der ungestüme Superstar seiner Zeit, ein prominenter Universalgelehrter, dessen Philosophie die klügsten Köpfe der Welt beeinflussen sollte; sein Kanon der Medizin ( al-Qanun fi al-Tibb ) wurde für über ein halbes Jahrtausend zum wichtigsten medizinischen Lehrbuch der Welt. Er hieß Ibn Sina, im Westen ist er
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