Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
ermitteln. Ich werde hier eine dritte Methode erläutern, die aber auf das Gleiche hinausläuft.
Vom Berggipfel aus misst man den Winkel TAH, um den der Horizont tiefer liegt als die Horizontale AH. (Die Horizontale legt al-Bruni mit Hilfe eines Lotfadens fest, der die Vertikale darstellt.) Der Winkel beträgt nach seinen Feststellungen 34 Bogenminuten (etwas mehr als ein halbes Grad). Da es sich bei ATO um einen rechten Winkel handelt (weil die Gerade AT eine Tangente des Kreises ist – ein geometrisches Theorem, das Euklid seit zwei Jahrtausenden zahlreichen Generationen von Schulkindern beibringt), sind die Winkel TAH und TOA gleich. Jetzt braucht man nur noch ein wenig elementare Trigonometrie. Der Kosinus des Winkels TOA ist das Verhältnis OT : OA, wobei OT der Radius der Erde ist. Aber OA = OB + BA, wobei OB = OT = der Erdradius, und BA ist die bekannte Höhe des Berges. Die einzige Unbekannte ist hier also der Radius der Erde, dessen Größe wir nun mit einigen Umstellungen ermitteln können. Al-Biruni war mit dem Gebrauch trigonometrischer Tabellen vertraut. Er berechnete den Erdradius auf 12 803 337 Kubit, und wenn man diese Zahl mit 2 Pi multipliziert, erhält man für den Umfang der Erde einen Wert, der bis auf ein Prozent mit der heute bekannten Zahl übereinstimmt – knapp unter 40 000 Kilometer.
Häufig wurde angemerkt, zu was für einem erstaunlich genauen Wert al-Biruni gelangte – er kam der Wahrheit näher als irgendjemand vor ihm. In Wirklichkeit bestehen allerdings eine Reihe von Unsicherheiten wie die genaue Definition des Kubit und der arabischen mil ; außerdem gehen alle diese Berechnungen davon aus, dass die Erde genau kugelförmig ist (während wir heute wissen, dass der Umfang am Äquator größer ist als wenn man ihn über die Pole misst). Bemerkenswert ist demnach an al-Birunis Methode nicht, dass er dem modernen Wert so nahe kam, sondern dass sie so erfindungsreich war und dass er die Werte – insbesondere die sehr kleinen Winkel – mit einer solchen Sorgfalt und Genauigkeit messen musste.
Al-Birunis Methode zur Berechnung des Erdumfangs.
Al-Birunis zahlreiche Beiträge zu anderen Wissenschaftsgebieten möchte ich hier nicht genauer erörtern, aber ich halte es für wichtig, kurz seine Beschäftigung mit der Geowissenschaft zu erwähnen. Auf seinen ausgedehnten Reisen in Indien stellte al-Biruni nicht nur detaillierte geographische, historische und kulturelle Studien an, sondern er verfasste auch aufschlussreiche Aufzeichnungen über die geologischen Verhältnisse. Unter anderem entdeckte er, dass der Subkontinent früher von einem Meer bedeckt war und erst später zu trockenem Land wurde, [171] aber er glaubte, dies sei auf die allmähliche Anhäufung von Ablagerungen zurückzuführen und nicht auf die tatsächliche, weitaus dramatischere Kontinentalverschiebung:
Wenn man aber den Boden Indiens mit eigenen Augen sieht und über sein Wesen nachdenkt, wenn man die rundlichen Steine betrachtet, die man in der Erde findet, ganz gleich, wie tief man gräbt, Steine, die in der Nähe der Gebirge und da, wo die Flüsse eine heftige Strömung hatten, groß sind: Steine, die in größerem Abstand von den Gebirgen und da, wo die Wasserläufe langsamer fließen, kleiner sind: Steine, die in Gestalt von Sand pulverisiert sind, wo die Wasserläufe in der Nähe ihrer Mündung und nahe beim Meer fast zum Stillstand kommen – wenn man dies alles betrachtet, kann man sich kaum des Gedankens erwehren, dass Indien einst ein Meer war, welches nach und nach durch die Ablagerungen der Ströme aufgefüllt wurde. [172]
Er wurde auch als erster Anthropologe bezeichnet, denn er schrieb detaillierte, vergleichende Untersuchungen über Religionen und Kulturen der Menschen, denen er in weiten Teilen Asiens begegnete.
Wäre man gezwungen, zwischen den drei herausragenden Gestalten der mittelalterlichen Wissenschaft – Ibn al-Haytham, al-Biruni und Ibn Sina – zu wählen und einen von ihnen zum Größten von allen zu erklären, kann ich nichts anderes tun als auf den Historiker George Sarton und seine maßgebliche Introduction to the History of Science zu verweisen. Angesichts der Tatsache, dass alle drei zur gleichen Zeit lebten, definiert er die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts als »Zeitalter von al-Biruni«.
Ich möchte dieses Kapitel beschließen, wie ich es begonnen habe: mit einem Zitat von al-Biruni. Darin verteidigt er die Gewinnung wissenschaftlicher Kenntnisse gegen
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