Im Heimlichen Grund
Rechte vorgreifend die fast gerade Wurzel umfaßte. Das Gewirr am unteren Ende bildete einen regelrechten Besen, und als solchen gedachte sie es zu verwenden, ein willkommenes Gerät für die Ausstattung der Höhlenwohnung.
Die Kinder stiegen am rechten Ufer aufwärts, ein Gebiet zu erforschen, das auch Peter noch unbekannt war.
Anfangs ging es sanft bergan auf dem moosbedeckten Uferrand des ruhigen Baches, dann aber wurde das Gelände steiler; lauter murmelte, rauschte der Bach zwischen dunklen, rundgerollten Glimmerschieferblöcken über Felsstufen herab. Allmählich trat der Rasen am Bachrand zurück. Ein Geröllsaum begleitete das munter zu Tal hüpfende, schäumende und rauschende Wasser. Und jetzt eilte es in einer tief zwischen den Felsblöcken eingeschnittenen Rinne dahin, umwachsen von Waldrebengewirr, hohen Farnen und großblättrigen Pestwurzen, so daß die Kinder nur von Felsblock zu Felsblock springend vorwärts gelangen konnten. Ab und zu sahen sie an den Seiten handbreite Quellbächlein aus dem lichter werdenden Gehölz hervortreten und in den Moorbach münden.
Das Bachbett verengte sich zu einer steil ansteigenden Klamm, deren verwitterte, von dunklem Moos und gelben Flechten bedeckte Glimmerschichten bei jeder Berührung abbröckelten. Dabei fanden sie zwischen den grauen Plättchenwieder jene roten Steinchen. Aber hier waren sie nicht angeschliffen wie unten im Bachbett, sondern von lauter glatten, schiefwinkeligen Vierecken begrenzt, die schöne Kanten bildeten, als ob sie sorgfältig zugeschliffen wären. Es waren Granatkristalle. Eva sammelte mehr als eine Handvoll der feurigen Edelsteine, wickelte sie sorgsam in Blätter und legte sie in ihren Korb.
Üppige Farnkräuter umbauschten die Ränder der noch taufeuchten Felswände. In der schattigen Tiefe aber war die Luft kühl, fast kalt. Plötzlich war die Klamm zu Ende. Aufschauend sahen die Kinder mächtige Felsmassen von rotem, mit weißen Adern durchzogenem Kalkgestein dachförmig über ihren Häuptern. Und hier, wo das Kalkgebirge auf dem Urgestein ruhte, stürzte der Moorbach aus einer Felshöhle hervor, die tief in die Kalkwand zu führen schien. Die beiden kletterten neben dem Wasserfall zur Quellhöhle hinauf. Dort blieben sie stehen und schauten zurück: Zur Rechten unterhalb der bewaldeten Lehne lag der dunkelgrüne, von den runden Wasserspiegeln der Mooraugen durchsetzte Sumpf mit seinen silbrig schimmernden Weidenkronen und weißen Birkenstämmen. Dahinter schoben sich die von der Schlucht zerrissenen Klammwände senkrecht hoch, ihre drei ragenden Wahrzeichen – Spitz, Henne und Horn – erschienen von hier aus fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie waren breiter geworden und eng aneinander gerückt. Von der Henne war der Kopf nicht zu sehen; sie war zur schlafenden Henne geworden. Zu ihren Füßen hatten sie zunächst einen mächtigen Laubwald und dann das vom Klammbach durchquerte Steinfeld. Dahinter stieg die dunkle Grableiten an, mit der darüber ragenden Wand aus grauem Kalkstein, eine mächtige Steinmauer, an deren obersten Zinnen Wolkenfetzen hintrieben. Dort oben mochte ein scharfer Wind wehen, aber im Heimlichen Grund unten rührte sich kein Blatt.
Den Klammbach aufwärts entdeckten ihre suchenden Augen im Talkessel den Sonnstein mit der morschen Wetterfichte. Seine Westseite war noch völlig im Schatten, es war also noch vor dem Mittag. Und links von ihm säumte düsterer Wald den Fuß der Salzleiten. Sein Grün verdeckte fast die untere Wohnhöhle; nur Evas Lichtluke guckte hinter den Baumwipfeln herüber.
Plötzlich schrie Peter auf: »Das Steinwild! Das Steinwild! Schau, dort droben an der Salzwand, wo sie die langen, nassen Streifen hat! – Die Steinböck' sind an der Salzlecke!«
Lange mußte Eva ihre Augen anstrengen, bis sie die Tiere gewahrte, deren dunkles Braungrau sich kaum von der Felswand abhob.
Peter, dessen Augen schärfer und geübter waren, bemerkte, daß drei von den Tieren weiß gescheckt waren. Es waren Nachkommen der weißen Ziege, die mit der Ahnl in den Heimlichen Grund gekommen war! Seine Freude war so übermächtig, daß er sich in einem gellenden Juchzer Luft machen mußte.
Das Steinwild stand wie angewurzelt. Ein zweiter Juchzer aber, der mit dem Widerhall zusammenklang, brachte es in Bewegung.
In wohlgeordnetem Zuge stiegen die Tiere schräg auf, den Steinschlagwänden zu; in kühnen Sprüngen setzten sie über Risse und Spalten und entschwanden oberhalb der Südwand den Blicken
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