Im Herzen der Nacht - Roman
Um das herauszufinden, gab es nur eine einzige Möglichkeit.
»Artemis«, sagte sie laut und deutlich, »kommen Sie in menschlicher Gestalt zu mir!«
Nichts geschah. Kein Laut, kein greller Blitz. Deprimiert ging sie in ihre Schlafnische.
»Wer sind Sie? Und warum haben Sie mich gerufen?«
Als die ärgerliche Stimme mit dem fremdartigen Akzent
erklang, erstarrte sie. Nur zögernd drehte sie sich um und sah eine hochgewachsene, bildschöne Frau in einer langen, weißen Robe neben dem Sofa stehen. Kastanienrote Locken umrahmten ein Engelsgesicht mit leuchtend grünen Augen, die unmissverständlich bekundeten, wie ungern Artemis hier aufgetaucht war. Erbost stemmte sie ihre Hände in die Hüften.
»Bist du wirklich Artemis?«
»Wen haben Sie denn gerufen? Artemis oder Peter Pan?« Offenbar war die Göttin keine Nachteule und ziemlich sauer, weil Sunshine sie aus dem Schlaf gerissen hatte.
»Artemis.«
»Da ich nicht grün gekleidet bin und nicht wie ein pubertärer Junge aussehe, muss ich’s wohl sein.«
»Sind Sie immer so reizbar?«
»Sind Sie immer so dumm?«, zischte die Göttin. Die Arme vor der Brust verschränkt, warf sie Sunshine einen vernichtenden Blick zu. »Hören Sie, kleine Menschenfrau, ich habe keine Geduld mit Ihnen. Sie zählen nicht zu meinen Untertanen. Und das Medaillon an Ihrem Hals beleidigt mich. Sagen Sie, was Sie wollen, damit ich Sie möglichst bald loswerde.«
Nein, das sah gar nicht gut aus. Talons Chefin war ein unsympathisches Biest. »Nun, ich möchte Sie um Talons Seele bitten.«
»Meinen Sie Speirr von den Morriganten?« Artemis legte den Kopf schief. »Den keltischen Clanführer, den ich von der Morrigán weggelockt habe?«
»Ja.«
»Nein.«
»Nein?«, wiederholte Sunshine ungläubig.
»Gibt’s hier ein Echo? Nein, seine Seele gehört mir. Die kriegen Sie nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es gesagt habe.«
Wütend biss Sunshine auf ihre Lippen. Was für eine arrogante Göttin! Vielleicht sollte sie mal einen Kurs für gesellschaftliche Umgangsformen besuchen. »Ist das Ihr letztes Wort?«
Artemis hob hochmütig ihre schön geschwungenen Brauen. »Kleines Mädchen, haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, mit wem Sie reden?«
Um sich zur Ruhe zu zwingen, holte Sunshine tief Luft. Sie durfte nicht die Beherrschung verlieren. Sonst würde ihr diese Person niemals Talons Seele geben. Ganz zu schweigen von der Gefahr, dass die Göttin sie töten könnte, wenn sie lange genug provoziert wurde. »Natürlich, das weiß ich, Artemis. Verzeihen Sie mir, ich wollte Sie nicht ärgern. Ich liebe Talon und möchte mein Leben mit ihm verbringen. Dafür würde ich alles tun. Verstehen Sie das?«
»O ja.« Artemis’ Gesicht nahm etwas sanftere Züge an.
»Dann geben Sie mir...«
»Die Antwort lautet immer noch ›Nein‹.«
»Warum?«
»Weil nichts auf dieser Welt umsonst ist. Wenn Sie Talons Seele haben wollen, müssten Sie dafür zahlen.«
»Wie?«
Lässig zuckte Artemis die Achseln. »Das können Sie gar nicht, denn Sie besitzen nichts, was mich interessiert.«
»Meinen Sie das ernst?«
»Todernst«, bestätigte die Göttin, hüllte sich in eine Nebelwolke und verschwand.
»Artemis, Sie mieses Biest!«, schrie Sunshine, ehe sie sich zurückhalten konnte. Gepeinigt griff sie an ihre Kehle. Was jetzt? Freiwillig würde diese egoistische Kanaille Talons Seele niemals rausrücken.
Amanda Devereaux Hunter erwachte um halb acht Uhr morgens. Geistesabwesend schaute sie auf den Wecker und schloss die Augen wieder. Dann schreckte sie hoch, plötzlich hellwach.
Halb acht, und ihre kleine Tochter Marissa war nicht um halb fünf erwacht, zu dem Zeitpunkt, zu dem sie stets gefüttert wurde. Keiner Panik nahe, aber in wachsender Besorgnis stand Amanda auf und eilte ins angrenzende Kinderzimmer.
Das Bett war leer. Erst drei Wochen alt, konnte Marissa nicht weggelaufen sein.
O Gott, Desiderius war zurückgekehrt! Eisiges Entsetzen raubte ihr den Atem. Seit sie dieses Monstrum gemeinsam mit Kyrian besiegt hatte, sah sie es immer wieder in bösen Träumen von den Toten auferstehen, um Rache zu üben.
»Kyrian!« Verzweifelt stürmte sie in ihr Schlafzimmer zurück und rüttelte ihren Mann wach.
»Was ist los?«, murmelte er unwillig und gähnte.
»Marissa ist verschwunden!«
Sofort riss er die Augen auf. »Wohin?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls liegt sie nicht in ihrer Wiege.«
Er sprang aus dem Bett, hob seine Hose vom Boden auf und schlüpfte hinein. Ohne auf ihn zu
Weitere Kostenlose Bücher