Im Herzen der Nacht - Roman
warten, rannte sie die Treppe hinab. Wo mochte Marissa sein? Ihr Baby zu verlieren - der allerschlimmste Albtraum. Sie sah nach, ob die
Haustür offen stand. Vielleicht war jemand hereingeschlichen, um das Kind zu holen. Aber die Tür war geschlossen.
Im Wohnzimmer blieb sie wie erstarrt stehen und traute ihren Augen nicht. Acheron lag auf der Ledercouch und hielt Marissa fest, die sich sichtlich zufrieden an seine muskulöse Brust schmiegte. Auf dem sargförmigen Couchtisch stand ein leeres Milchfläschchen neben einer Windelpackung.
Erleichtert und fassungslos zugleich, atmete Amanda auf. Als sie Acheron vor etwa einem Jahr zum ersten Mal gesehen hatte, war sie zutiefst erschrocken. Ein gruseliger Mann, mit einer grenzenlosen Macht gerüstet, die ganz New Orleans vernichten könnte, wenn er es wünschte. Da lag er und kuschelte mit ihrer kleinen Tochter.
»Ist sie...« Bei Acherons Anblick verstummte Kyrian abrupt, und Amanda schaute ihn über ihre Schulter an.
»Dass Ash Babys mag, wusste ich gar nicht.«
»Ich auch nicht. Seit Marissas Geburt schien er sich in unserem Haus immer etwas unbehaglich zu fühlen. Deshalb dachte ich, er mache sich nichts aus kleinen Kindern.«
»Gewiss, das stimmt.« Ash hatte Marissas Gesellschaft stets gemieden. Jedes Mal, wenn sie geschrien hatte, war er zusammengezuckt und schnell geflohen. Niemals hätte Amanda erwartet, er würde ihre Tochter wickeln und füttern.
Sie durchquerte das Zimmer und griff nach ihrem Baby. Da erwachte er und schaute sie an, eine wilde Glut in den Silberaugen. Bestürzt wich sie zurück. Er setzte sich auf der Couch auf. Ansonsten rührte er sich nicht. Nach ein paar Sekunden blinzelte er Kyrian und Amanda an. »Tut mir leid, ich wusste nicht, dass ihr es seid.«
»Gerade wollte ich Marissa hochheben«, erklärte Amanda.
»Oh...« Er musterte das Kind, das immer noch in seinem Arm schlummerte. »Während ich auf ihren Rülpser gewartet habe, muss ich eingeschlafen sein.« Er übergab Marissa ihrer Mutter, und die Art, wie er das machte, bekundete deutlich genug, dass er nicht zum ersten Mal ein Baby versorgt hatte. »Hoffentlich habe ich euch nicht erschreckt. Bei meiner Ankunft hat sie geweint, und so ging ich hinauf, um nach ihr zu sehen.« Zu Amandas Verblüffung erbleichte er. Der Gedanke an ein unglückliches Baby schien ihn zu peinigen. »Weil ihr noch geschlafen habt, wollte ich euch eine Atempause gönnen.«
»Danke, Ash.« Sie neigte sich hinab und küsste seine Wange. »Das war sehr nett von dir.«
Einen gequälten Ausdruck in den Augen, stand er auf und ergriff seinen Rucksack, der neben dem Sofa am Boden lag. »Jetzt gehe ich schlafen.«
Auf dem Weg zur Tür wurde er von Kyrian zurückgehalten. »Bist du okay, Ash? Du siehst ziemlich nervös aus.«
Darüber musste Acheron lachen. »Wann war ich jemals nervös?«
»Noch nie.«
Ash klopfte auf Kyrians Schulter. »Schon gut, ich bin einfach nur müde.«
»Wo warst du gestern? Du bist nicht hierhergekommen, um zu schlafen.«
»Weil ich etwas erledigen musste, das nicht warten konnte.«
Amanda seufzte. »Eines Tages wirst du lernen müssen, dich jemandem anzuvertrauen.«
»Gute Nacht, Amanda.« Er nickte Kyrian zu, ging zur Treppe und stieg hinauf.
»Nicht zu fassen«, meinte sie. »Seit zweitausendeinhundert Jahren kennst du Ash und weißt so wenig über ihn.«
Resignierend zuckte Kyrian die Achseln. »Schon immer war er sehr verschlossen und in sich gekehrt. Vermutlich wird niemand jemals etwas über ihn erfahren, außer seinem Namen.«
Sunshine blieb bis zum späten Vormittag im Bett und entsann sich, wie es war, neben dem schlafenden Talon zu liegen und seinen tiefen, gleichmäßigen Atemzügen zu lauschen.
Im Schlaf schob er gern ein Knie zwischen ihre Schenkel. Besitzergreifend schlang er einen Arm um ihre Taille und vergrub die linke Hand in ihrem Haar. Wie schmerzlich sie ihn vermisste.
Wieder einmal wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit, in ihr anderes Leben.
»Geh nicht, Speirr! Etwas Böses lauert dir auf, ich weiß es.«
Wütend riss er sich von ihr los. »Mein Onkel wurde ermordet, Nynia, vor meinen Augen niedergemetzelt. Ich werde weder ruhen noch rasten, bevor ich ihn gerächt habe.«
Als Nynia hatte sie befürchtet, er würde sie verlassen, wenn sie ihm widersprach. In allen Belangen ordnete sie sich ihrem Ehemann unter. Auch jetzt bedrängte sie ihn nicht länger. Doch in ihrem Herzen wusste sie, er würde Ereignisse in Gang setzen, die er nie
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