Im Herzen der Nacht - Roman
Flehend schaute er seine Tante an und hoffte, sie würde die Not seines Herzens verstehen. »Ich liebe Nynia. Ohne sie will ich nicht leben.«
»Wie jung und dumm du bist!«, herrschte der Onkel ihn an. »Genau wie deine Mutter lässt du dich von deinem Herzen leiten. Wenn du dich weigerst, meine Wünsche zu erfüllen, wirst du die Schande deiner Mutter niemals tilgen. Alle Welt wird dich einen lächerlichen Hurensohn nennen. Geh in die Halle zurück und heirate Deirdre! Sofort!«
»Nae«, erwiderte Speirr unerschütterlich.
»Wenn du dich weigerst, werde ich dich verbannen.«
»Dann verbanne mich.«
»Nae!«, mischte sich die Tante ein. In ihren Augen erschien jener geistesabwesende Ausdruck, der sich jedes Mal zeigte, wenn sie durch die reale Welt in höhere Sphären blickte. »Hier sind die Götter am Werk, Idiag. Schau ihn an - Nynia ist seine Seelengefährtin, die beiden sind füreinander bestimmt.«
Fluchend ballte der König die Hände. »Welch ein großartiges Bündnis wäre es für unseren Clan!«, stöhnte er verbittert. »Den Völkern würde es Frieden bringen, niemand
würde die Position meines Erben streitig machen. Aber ich werde mich nicht gegen die Götter stellen.« Er berührte den Arm seines Neffen. »Geh zu deiner Nynia, mein Junge, während ich versuche zu retten, was noch zu retten ist, um einen Krieg zu vermeiden.«
Speirr blinzelte ungläubig. Zum ersten Mal zeigte sich der Onkel freundlich und barmherzig. »Meinst du das ernst?«
Da verengten sich Idiags Augen. »Am besten verschwindest du, ehe mein Verstand zurückkehrt.«
»Danke!«, rief Speirr und rannte zu seinem Pferd. Aus einem Impuls heraus kehrte er um und umarmte seine Tante, dann seinen Onkel. »Oh, ich danke euch beiden von ganzem Herzen!«
So schnell seine Beine ihn trugen stürmte er zu seinem Pferd, sprang in den Sattel, drückte die Fersen in die Flanken des Tiers und galoppierte zu seinen eigenen Ländereien. Auf dem Weg durch den Wald sprengte der Rappe durch dorniges Unterholz und Unkraut. Hinter seinen Hufen flogen Erdklumpen empor. Sonnenstrahlen fielen zwischen den Bäumen hindurch und spiegelten sich in Speirrs Rüstung. Gnadenlos trieb er den Hengst zu noch größerer Geschwindigkeit an. Nynia, er wollte seine Nynia erreichen …
Nynia seufzte, als die Mutter ihr den schäbigen alten Korb mit den stinkenden Fischen hinhielt. »Muss ich das wirklich abliefern?«, fragte sie angeekelt.
»Ja, weil dein Bruder was anderes zu tun hat. Die Leute warten schon darauf. Geh jetzt, mein Kind! Keine Widerworte!«
Die Lippen zusammengepresst, ergriff Nynia den Korb.
Wie sie das hasste. Lieber würde sie sich verprügeln lassen, als das Haus des Schmieds aufzusuchen, wo Eala die Lieferung entgegennehmen würde. Die Tochter des Schmieds war so alt wie sie selbst. Doch sie benahm sich, als wäre sie von ebenso edler Abstammung wie Speirr. Es machte ihr großen Spaß, Nynia zu demütigen.
Das würde Nynia nicht ertragen - nicht an diesem Tag, nachdem der Verlust ihr Herz gebrochen hatte. Inzwischen musste Speirr die andere geheiratet haben. Für sie war er endgültig verloren.
Die Augen voller Tränen, verließ sie die winzige Hütte, die sie mit ihren Eltern und dem Bruder teilte, und ging zum anderen Ende des Dorfs. Dort wohnten die vornehmeren Leute, vom Dunstkreis der Fischhändler, Gerber und Metzger entfernt.
»O Speirr!«, flüsterte sie und wischte die Tränen von ihren Wangen. Wie sollte sie auch einen einzigen Tag ohne ihn überleben? Ein Leben lang hatte er ihr geholfen, die harte Arbeit zu verkraften. Jeden Tag hatte sie sich auf die heimlichen Stelldichein am Ufer des Lochs gefreut, mit ihm gelacht und gescherzt.
Jetzt waren diese Tage für immer beendet. Wenn er zurückkehrte, würde ihn seine Ehefrau begleiten. Und eines Tages würde seine Königin ihm Kinder gebären. Bei diesem Gedanken wuchs ihre Verzweiflung.
Ziellos wanderte sie durch das Dorf und dachte an den einzigen Mann, den sie jemals lieben und dem sie niemals Kinder schenken würde. Nie wieder würde sie ihn umarmen.
Als sie sich schließlich dem Haus des Schmieds näherte, merkte sie, dass Eala an diesem Tag nicht allein war. Einige Freunde standen bei ihr, und sie schwatzten miteinander.
Drei der Jungen kannte Nynia. Und die Mädchen wären auch ihre Freundinnen, hätte sie nicht - wie sie immer wieder betonten - so grässlich nach Fisch gerochen.
»Ach, du meine Güte!«, rief Eala angewidert. »Da kommt die Tochter des
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