Im Herzen der Nacht - Roman
anzutreten. Jetzt musst du es tun, damit der Clan dich als seinen König anerkennt, wenn dein Onkel stirbt.«
Sie las den Kummer in seinen Augen, spürte seine angespannten Muskeln. »Ja, ich weiß.«
So sehr liebten sie sich. Seit dem Tag, als sie sechs und er acht Jahre alt gewesen war. Damals hatte er sie vor einem angriffslustigen Hahn gerettet und war der Held ihres Herzens geworden. Gemeinsam wuchsen sie auf, niemals trennten sie sich. Seit der Kindheiten wussten sie, man würde ihre Freundschaft unterbinden oder verhöhnen. Speirr war oft genug verspottet worden. Und so erzählten sie niemandem,
wenn sie von ihren Familien wegschlichen und ihre Pflichten vernachlässigten, um einander zu treffen. Jahrelang blieben diese Begegnungen unschuldig. Sie spielten und fingen Fische. Manchmal schwammen sie. Oder sie klagten sich ihr Leid.
Erst in diesem letzten Jahr hatten sie gewagt, sich zu berühren. Nynia war die Tochter eines Fischhändlers von niedrigster Herkunft. Trotzdem behandelte er sie niemals so respektlos, wie es die anderen taten. Kein einziges Mal erwähnte er die fadenscheinigen, geflickten Kleider, den Fischgeruch, der an ihr haftete. Er respektierte sie und nahm ihre Freundschaft ebenso wichtig wie sie die seine.
Nur zu gern schenkte sie ihm ihre Jungfräulichkeit in der Gewissheit, nichts könnte jemals zwischen sie treten. Und doch wusste sie, er müsste eines Tages eine andere heiraten. Obwohl es ihr das Herz brach, sie würde ihn gehen lassen. Nur wenn er eine andere heiratete, konnte er den Makel auslöschen, den seine Mutter ihm hinterlassen hatte, und dem Clan beweisen, dem Blute nach wäre er ebenso edel wie in seinem Geist.
»Sicher wirst du ihr ein guter Ehemann sein, Speirr. Sie darf sich glücklich schätzen, weil sie ihr Leben mit dir verbringen wird.«
»Sag das nicht!« Mit beiden Armen drückte er sie an sich. »Solange ich bei dir bin, will ich an keine andere denken. Halt mich fest, Nyn! Für ein paar Stunden lass mir die Illusion, ich wäre nicht der Sohn meiner Mutter, auf dieser Welt würde es nur uns beide geben und nichts und niemand könnte uns jemals trennen.«
Wenn es doch so wäre... Mühsam bekämpfte sie ihre Qual, und er strich zärtlich über ihre Wange. »Du bist die
einzige Wärme meines Herzens, der einzige Sonnenschein, den mein Winter jemals kannte.«
Oh, wie sehr sie ihn liebte, wenn er - der kühne Kriegsherr - seine poetische Ader zeigte. Diesen Wesenszug kannte nur sie allein, nur sie wusste über seine dichterische Begabung Bescheid. Vor dem Rest der Welt musste er stark und gebieterisch auftreten, ein tüchtiger, unbesiegbarer Kämpfer.
Doch sie liebte sein poetisches Herz über alles. »Du bist mein Feuer«, hauchte sie. »Aber wenn du nicht zu deinem Onkel gehst, wird er dich vernichten.«
Fluchend wandte er sich von ihr ab. Sie beobachtete, wie er sich ankleidete, und half ihm in seine Rüstung. Zweifellos war er ein Prinz, nicht nur seinem Rang nach, auch in seiner Seele, in seinem Geist. Nirgendwo gab es einen edleren Mann. Er nahm sie in die Arme und gab ihr einen letzten, glutvollen Kuss. »Sehen wir uns heute Abend?«
»Wenn du es wünschst, Speirr«, antwortete sie und wich seinem Blick aus. »Was immer du willst, ich werde es tun. Aber du würdest deine neue Ehefrau missachten, wenn du mich in deiner Hochzeitsnacht triffst.«
Da zuckte er zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. »Natürlich hast du recht, Nyn. Auch dir gegenüber wäre es falsch.«
Beklommen spürte Sunshine, wie Nynia ihr entglitt. Jetzt nahm sie Speirr s Gefühle wahr. Sie befanden sich immer noch am Ufer des Lochs. Aber nun sah sie die Situation mit seinen Augen.
Schweren Herzens ließ er Nynia los. Er fürchtete, der Schmerz würde ihm alle Kraft rauben. Er streckte sein Hand nach ihr aus. Doch er wusste, er hatte sie verloren. Für immer.
Wie seine Mutter. So wie seine Schwestern und den Vater. O Götter, diese Ungerechtigkeit! Das Leben war niemals gerecht. Schon gar nicht einem Mann gegenüber, der eine Verantwortung tragen und Pflichten erfüllen musste, der seiner Schwester und sich selbst mit der Spitze seines Schwerts Respekt verschafft hatte.
Niemals hatte sein Leben ihm gehört.
Er wandte sich von Nynia ab, stieg auf sein Pferd und ritt zu seinem Onkel und zu seiner Tante, damit die ehelichen Bande zwischen ihrem Clan und dem gallisch-keltischen Stamm geschlossen werden konnten. Hoffentlich würde diese Heirat die Intriganten zum Schweigen bringen, die
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