Im Herzen der Zorn (German Edition)
Hand ausstrecken und sie anhalten können, wenigstens einen Moment lang.
Doch dann, wie auf Befehl, teilten die Flammen sich genau so, dass sie die herzförmige Kontur eines lächelnden Gesichts umrahmten, dessen Augen in dem rasch wechselnden Licht ganz eingesunken wirkten. Es gab keinen Zweifel. Es war Ali – die lachende, wahnsinnige Ali –, die Furie, die sie verfolgt hatte. Die Furie, die blutige Handabdrücke auf ihrer Tür hinterlassen hatte.
Em rang nach Luft, bekam weiche Knie. Ali war hier. Sie lachte über Em, über ihre Dummheit, über Ems Irrglauben, man könnte den Furien entkommen. Wenn Ali hier war, dann waren wahrscheinlich alle drei Furien hier.
Em sog einen tiefen Atemzug ein und steuerte auf die andere Seite des Feuers zu. Sie würde herausfinden, was sie auf Lager hatten – für sie, für diesen Abend, für Ascension. Es konnte sein, dass sie Gabby ihren Namen hatte sagen hören, sie war sich nicht sicher und es war ihr auch egal. Sie stolperte über einen Haufen Steine, verlor beinahe das Gleichgewicht, schwankte gefährlich nah in Richtung Feuer. Sie sah Ali nicht mehr, hatte aber immer noch dieses irre Lächeln vor Augen. Es drang ihr ins Hirn, versteinerte ihre Gedanken.
Sie war inzwischen auf der anderen Seite des Partygeschehens angekommen, wo die Leute weniger dicht und die Bäume näher beisammenstanden. Ein paar Schritte entfernt, mitten im Wald, hörte sie etwas – das Knacksen eines Zweiges, als sei jemand daraufgetreten. Sie bewegte sich vorsichtig auf das Geräusch zu und hielt dann inne. Stille.
Sie wusste, sie sollte lieber umdrehen. Sie würde sich da draußen verlaufen, wenn sie weiterginge. Aber da vorn bewegte sich etwas, da war sie sich ganz sicher. Das Flattern eines Kleides? Die geschmeidige Bewegung eines Schals? Das war sie. Das war Ali.
Sie wusste es einfach.
Em preschte durch die Bäume. Zweige schnellten zurück und schlugen ihr schmerzhaft ins Gesicht. Ein matschiger Pfad kam, kaum sichtbar, unter ihren Füßen zum Vorschein, wo das Unterholz sich ein wenig teilte. Sie folgte ihm fast blind, spürte Wurzeln und Steine durch die Stiefelsohlen. Sie hastete tiefer und tiefer in den Wald hinein, während der Pfad sich schlängelte und wand. Als sie so lief, musste sie an einen Campingausflug denken, den sie und ihre Eltern vor einigen Jahren zusammen mit JDs Familie unternommen hatten. Die Erwachsenen hatten ihnen die Erlaubnis erteilt, dem Fluss zu folgen, bis er einen kleinen Wasserfall erreichte, aber sie hatten sich vom Wasser entfernt und waren im Wald im Kreis gelaufen. Em hatte Angst bekommen, doch JD hatte sie beruhigt. »Sei einfach einen Moment still«, hatte er gesagt. »Dann hören wir den Fluss.«
In einem Anfall tiefster Überzeugung wurde ihr klar, dass sie diesem Pfad bis an sein Ende folgen würde, wo immer das war. Sie musste. Sie verharrte einen Augenblick und lauschte.
Wie konnte ein Ort nur so still sein und doch so voller Geräusche? Ihr Atem klang ihr rau in den Ohren, die Zweige, die Blätter und der eisige Schlamm flüsterten unheilvoll. In der Ferne war ein leises Brummen zu hören – ein Generator? Der Highway? Sie hatte inzwischen völlig die Orientierung verloren, war sich nicht sicher, ob sie den Rückweg zur Party finden würde, wenn sie wollte.
Da sah sie, wie sich neben ihren Füßen etwas bewegte. Mit unwillkürlichem Schaudern erkannte sie eine Schlange, die sich vor ihr seitlich von dem Pfad wegschlängelte. Es schien fast so – und ihr war klar, wie verrückt allein dieser Gedanke war –, als würde sie sie führen. Sie irgendwohin locken. Also folgte sie ihr ein paar Schritte, bevor sie unter einem Busch verschwand. Und in dem Augenblick öffnete sich der Pfad ein wenig. Em befand sich auf einer Lichtung. Vom Mond hell erleuchtet, erhob sich dort ein mächtiges Haus im Kolonialstil, kastig, einst wunderschön, aber inzwischen verfallen und dunkel.
Em bekam eine Gänsehaut.
Plötzlich hatte sie keinen Zweifel mehr: Die Furien waren hier. Das war ihr Zuhause. Sie konnte sie überall um sich spüren.
Ich schaffe das . Ich muss das schaffen . Dreas Gesicht, das von JD und das von Chase wurden ihr in den Kopf gespült wie Wellen in der Brandung und zogen sie Richtung Tür.
»Hallo?«, rief sie. Keine Antwort.
Knarz . Die Haustür ging auf, als sie sie nur berührte, und sie trat in eine große, leere Diele. Sofort stieg ihr ein beißender Gestank in die Nase. Der Geruch von verbranntem Haar, wie wenn Gabby eine
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