Im Herzen der Zorn (German Edition)
Strähne zu lange um den Lockenstab gewickelt hatte. Em unterdrückte den Brechreiz, hielt sich stattdessen den Ärmel vor die Nase und atmete hindurch.
Automatisch suchte sie neben der Tür nach einem Lichtschalter und schüttelte dann den Kopf. Als gäbe es an einem solchen Ort, der aussah, als wäre er gerade ihrem Geschichtsbuch entsprungen, überhaupt Strom. Sie spürte förmlich die Mäuse in den Wänden, die Termiten, die im Holz nisteten: ein Haus, das im Begriff war zu verfallen.
Das Mondlicht, das von draußen hereinfiel, war hell genug, um die Räume zu beiden Seiten der großen Treppe ein wenig zu erleuchten. Sie machte einen zaghaften Schritt in das Zimmer zu ihrer Linken, kramte ihr Handy aus der Jackentasche und benutzte es als provisorische Taschenlampe. Auch dieser Raum war leer, bis auf einen Stuhl und eine Abdeckplane unter einer der Wände, die in einem grellen Rot gestrichen war. Die Farbe erinnerte Em an etwas, sie war jedoch so verstört und voller Angst, dass ihr nicht einfiel, an was.
Dahinter: eine Küche mit pendelnder Petroleumlampe über einem klapprigen Tisch. Em ging darum herum, registrierte die dicke Staubschicht auf den Fenstern, die schwarzen Flecken, die an den Wänden emporkrochen. Der Geruch nach Asche und verbranntem Holz war überall – aber nicht so wie an dem Lagerfeuer auf der Party, das sie gerade verlassen hatte. Nein. Das hier roch anders, beißender, widerlicher. Sie entdeckte die Überreste cremefarbener Gardinen, nur noch Fetzen, deren braune Kanten sich kräuselten. Hier hatte es ganz sicher ein Feuer gegeben, und zwar ein schlimmes.
Sie zwang sich, weiter in das Haus hineinzugehen.
Das Treppengeländer war angesengt und brach langsam auseinander. Sie konnte förmlich sehen, wie die Flammen am Holz emporzüngelten, konnte spüren, wie die Hitze sich im ganzen Treppenhaus ausbreitete. Plötzlich wurde ihr ganz anders. Auf den Stufen waren keine schmutzigen Fußabdrücke. Kein Zeichen von Ali, Ty oder Meg. Aber es gab ja noch den ersten Stock – vielleicht fanden sich dort irgendwelche Hinweise.
Sachte setzte sie den Fuß auf die unterste Treppenstufe. Dann stieg sie bedächtig nach oben, atmete nur ganz flach, versuchte, so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen. Sie betete, die Treppe möge nicht morsch sein. Sie stellte sich vor, wie sie unter ihr zusammenbrach und sie in einen Haufen Schutt und zersplittertes Holz stürzen ließ, die das Feuer hinterlassen hatte.
Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen, wog ab, in welche Richtung sie gehen sollte. Sie glaubte, in einem Zimmer zu ihrer Rechten ein Licht schnell an- und ausgehen zu sehen. Ihr erster Impuls war wegzulaufen. Doch dann ballte sie die Hände zu Fäusten und ging vorsichtig weiter.
»Wer ist da?« Ihre Stimme zitterte. Sie räusperte sich. Sie ging in das Zimmer, in dem sie das Licht gesehen hatte. Nichts. Hatte sie sich das nur eingebildet? Einen Moment lang sah sie sich so, wie ein Außenstehender es tun würde: allein, in einem fremden dunklen, ausgebrannten Haus, mitten im Winter, auf der Suche nach Geistern.
Die Furien treiben dich in den Wahnsinn .
Kehr um , sagte sie sich selbst. Kehr um und geh zurück zu der Party . Aber sie konnte nicht. Sie war immer noch im Bann des Bösen, das so nah war.
Hinter ihr raschelte etwas. Em wirbelte erschrocken herum und nahm automatisch und mit stockendem Atem abwehrend die Arme hoch.
Eine riesige Ratte, deren langer Schwanz auf dem Holzboden durch den Staub schleifte, huschte aus dem Zimmer.
Em machte einen Satz rückwärts, atmete dann auf und ließ die Arme wieder sinken. Sie ging zurück in den Flur, der durch ein halbrundes Fenster ganz oben in einer der Wände schwach erleuchtet war. Sie bewegte sich weiter in das Haus hinein, wobei sie sich nach jedem Schritt umwandte und hinter sich blickte. Ihre Schritte hallten, als sie mit den Stiefeln auf den alten Dielen aufkam. Da, direkt vor ihr, war eine verschlossene Tür. Sie streckte die Hand aus, näherte sich mit zitternden Fingern dem glatten Messingtürknauf.
»Den würde ich an deiner Stelle nicht anfassen.«
Em drehte sich blitzschnell um. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Ty war plötzlich hinter ihr, hatte zwischen ihr und der Treppe Gestalt angenommen. Sie sah Em mit ruhigen großen Augen an.
»Du hast was mit deinen Haaren gemacht.« Dummerweise war das das Einzige, was Em in dem Moment einfiel.
Ty lächelte. »Ich wollte, dass sie so aussehen wie deine«, antwortete sie.
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