Im Himmel mit Ben: Roman (German Edition)
gehört hatte, und bin mit diesem diffusen Gefühl aufgestanden, dass heute irgendetwas Schlimmes passieren würde. Ich sehnte mich nach Georg und seiner Nähe. Die letzten Wochen haben wir fast jede Nacht miteinander verbracht, und ich fühlte mich plötzlich sehr einsam. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass das auch in Zukunft wieder täglich der Fall sein wird.
»Hier, nimm.« Mein Sitznachbar hält mir ein Papiertaschentuch direkt unter die Nase. Ich habe gar nicht bemerkt, dass mir trotz geschlossener Augen die Tränen in dicken Tropfen über die Wangen laufen. »Kann ich dir irgendwie helfen? Ich bin übrigens Gabriel.«
»Danke, ich heiße Marly. Es geht schon wieder«, sage ich schniefend und schaue verlegen aus dem Fenster. Der Himmel sieht irgendwie eigenartig aus. Er wirkt ungewöhnlich milchig, so als würden wir uns mühsam durch einen dicken Wattebausch fortbewegen. Ich bin schon einige Male geflogen, auch durch Wolkendecken, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Als wir die weiße Wand nach mehreren Minuten noch immer nicht durchbrochen haben, werde ich nervös.
»Der Himmel sieht komisch aus, findest du nicht? Irgendwie wie dickflüssige Milch.«
Interessiert beugt sich der Typ zu mir herüber und sieht aus dem Fenster. »Das sieht aus wie dichter Nebel, aber in Glasgow soll ausnahmsweise klares Wetter sein.«
»In Schottland ist das Wetter ja meistens eher wechselhaft«, nehme ich nun das Gespräch auf. Vielleicht lenkt es mich ja ein wenig ab. »Fliegst du nach Glasgow weiter oder nimmst du den Zug dorthin?«
»Wieso? Der Flug geht doch direkt nach Glasgow.«
»Nein, ich fliege nach Inverness.«
»Aber nicht mit diesem Flugzeug.«
»Doch, ganz bestimmt.« Meine Bordkarte steckt im Vorderfach meiner Handtasche. Schnell habe ich sie herausgezogen und halte sie meinem Sitznachbarn unter die Nase. »Hier, da steht es.«
»Mein Flug geht aber nach Glasgow, ganz sicher«, behauptet er noch einmal und zieht nun auch seine Bordkarte heraus. Verdutzt halten wir die beiden Abschnitte nebeneinander, um sie zu vergleichen.
Als wir gleichzeitig die Hälse recken, um nach einer Stewardess Ausschau zu halten, mischt sich eine ältere Dame aus der Reihe hinter uns in die Diskussion ein. Offenbar hat sie alles mitgehört.
»Sie sind wohl heute zum ersten Mal dabei?«
»Wobei? Was meinen Sie?« Ich fliege nach Inverness! Ich habe richtig eingecheckt, und das Flugpersonal hat meine Bordkarte überprüft. Säße ich im falschen Flugzeug, hätte sich bestimmt schon jemand beschwert, dem ich den Sitzplatz weggenommen hätte. Immerhin scheint der Flieger ausgebucht zu sein.
»Sehen Sie sich doch mal den Namen der Fluggesellschaft auf Ihrer Karte an.«
»Journey to heaven«, lese ich laut vor. Es steht ganz klein am Rand. Darauf habe ich bisher nicht geachtet.
»Das ist jetzt aber ein schräger Witz und überhaupt nicht lustig«, klinkt sich der Typ neben mir wieder ein. Er sieht richtig sauer aus.
Mittlerweile haben auch andere Fluggäste um uns herum Wind von der Irritation bekommen. Sie suchen aufgeregt nach ihren Bordkarten, einige lehnen sich nach einem Blick darauf entspannt lächelnd in ihren Sitzen zurück.
»Ich liebe diesen Moment«, sagt ein Mann aus dem Gang gegenüber zu der Dame hinter uns. »Er ist immer wieder schön. Finden Sie nicht auch?«
»Gleich geht es los«, sagt sie und kichert wie ein junges Mädchen.
Ich verstehe im nächsten Moment, was sie damit meint, denn auf einmal sind Stimmen aus allen Reihen zu hören.
»Ich fliege nach Lissabon«, ruft eine junge Frau.
»Ich nach Rom!«
»Und ich nach Madrid!«
»Mein Flug geht nach Izmir …«
»Izmir? Ich dachte, wir fliegen nach Kopenhagen.«
Sämtliche Passagiere im Flieger reden nun durcheinander und vergleichen ihre Bordkarten. In der Reihe vor uns beginnt eine junge Frau zu weinen. Sie dürfte etwa in meinem Alter sein.
»Keine Angst, es wird sich schon alles aufklären«, versuche ich sie zu beruhigen und drücke tröstend ihre Schulter.
Als sie sich zu mir umdreht, wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich habe keine Angst, ich freue mich einfach so sehr, dass ich meinen Mann noch einmal sehen darf. Er ist vor einem Dreivierteljahr ganz plötzlich gestorben. Und dann kam gestern diese Einladung mit dem Flugticket …«
Sprachlos drehe ich mich zu Gabriel, der nun ganz blass neben mir sitzt.
»Meine verstorbene Zwillingsschwester hat mir die Einladung geschickt«, erklärt er. »Ich hielt es
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