Im Informationszeitalter
Vorseucheideologien, die alte Theorien auf die neue Situation anwenden.
6. Stanislaw Lem: “Der Futurologische Kongreß”
In Costricana findet der achte futurologische Kongreß statt, der die Überbevölkerung der Welt und ihre Bekämpfung thematisiert. Der Kongreß beginnt unter schlechten Vorzeichen: in den Straßen um das Hilton, das die Kongreßgäste beherbergt und eine geschlossene Welt für sich ist, tobt der Bürgerkrieg zwischen der Militärregierung und Putschisten. Auch neuartige chemische Kampfstoffe, “Gutstoffe” und Benignatoren, die Reue, allumfassende Liebe und Güte induzieren, kommen zum Einsatz. Schließlich müssen sich auch die Teilnehmer des Kongresses in die Kanalisation des Hotels zurückziehen, wobei sie den Kampfstoffen aber nicht ganz entfliehen können. Die Wirklichkeitsebenen verschieben sich durch die
Überlagerung immer neuer halluzinatorischer Erlebnisse; auf einer dieser Erlebnisebenen wird Tichy so schwer verwundet, daß man ihn einfrieren muß, bis sich die Medizin seines Falles annehmen kann. Die folgenden Erlebnisse in der Zukunft des Jahres 2039 sind das Kernstück der Erzählung: Tichy ersteht von den Toten auf und findet sich in der Gesellschafts-ordung der Chemokratie wieder (Tichy erwacht erstaunlicherweise geheilt aus dem Kälteschlaf - eine Erklärung für seine Genesung wird nicht gegeben). Alle Sinneswahrnehmungen und die Reaktionen der Menschen werden bis in die kleinsten Entscheidungen durch die Einnahme chemischer Mittel gesteuert. Tichy, der dieser Kultur mißtraut, gelingt es mit Hilfe des ehemaligen Futurologen Professor Trottelreiner, der ihm ein chemisches Antidot verschafft, die Mauern der “Maskone” zu durchbrechen. Zunächst eröffnet sich Tichy durch die Einnahme des Mittels der Eintritt in die erste Hölle einer hoffnungslos überbevölkerten Welt; diese wird aber noch gesteigert durch die Existenz weiterer Antidote (jedes vorhergehende war seinerseits mit Maskonen versetzt), die immer schlimmere “Wirklichkeiten” zeigen. Wie eine Zwiebel verliert die simulierte Welt ihre Schichten, so daß sich Tichy kaum traut, das vorläufig letzte Mittel einzunehmen.
Zum Schluß entlarvt Tichy Symington, einen Bekannten, der sich mit der Produktion von “Bösem” zur Triebentlastung in der chemisch kontrollierten Welt beschäftigt, als Drahtzieher bei der Produktion und Verteilung der “Maskone”. Er ist der heimliche Diktator, der letzte, der um die Wirklichkeit Bescheid weiß und seinen Vorteil (unter altruistischem Vorwand) für sich nutzt. Wutentbrannt ringend stürzen Tichy und Symington aus einem Fenster - und Tichy erwacht in der Kanalisation unter dem Hilton aus seinem Alptraum. Die Revolution ist inzwischen beendet und der Kongreß geht seinem zweiten Tagungstag entgegen 8 .
6.1. Die “Erlebnisebenen” in der Erzählung Tichys
Tichy, der Protagonist der Erzählung, ist wie Pirx ein “intuitiver” Held, der als solcher den Spezialisten überlegen ist. “Seit einiger Zeit hat sich die Auffassung herausgebildet, daß die Bedingungen der modernen und zukünftigen zivilisatorischen Evolution nicht perfekt spezialisierte Individuen begünstigen werden, sondern vielmehr äußerst flexible’, nicht in Routine erstarrte, die zur Anpassung an die veränderlichen zivilisatorischen Bedingungen fähig sind.” (Jarzebski in: Berthel 1976, S. 80)
Die menschliche Schwäche und Unvollkommenheit, die der Leser hautnah miterlebt, wird zum Vorteil für Tichy, der um den Erhalt seiner Menschlichkeit kämpft 9 . Lem läßt Tichy 10 in der “Ich”-Form erzählen, die er sonst nur sehr selten verwendet. Dadurch wird der Leser in das Wechselbad der Erlebnisebenen stärker eingesogen.
“Annahmen des Lesers, es handle sich nur um Traum, Wahnsinn oder Halluzination sind letztlich Auflösungsversuche im Interesse der Rationalität, wenn auch unter negativem Vorzeichen. Kompliziert ist die Hinterfragung der Wahrnehmungsperspektive des Helden in der Ich-Erzählung, die von phantastischen Autoren nicht umsonst bevorzugt wird.” (Penning in: Thomsen/Fischer
1980, S. 36).
Lem bevorzugt sonst als untypischer SF-Autor eine die Objektivität bewahrende “Aufsicht” auf die Taten seiner Protagonisten, doch in diesem Kurzroman macht er eine Ausnahme.
Im “ Kongreß ” ist die Perspektive Tichys der einzige Angelpunkt, an dem sich die Orientierung des Lesers festmachen kann. So muß er dem Protagonisten folgen, wenn dieser immer wieder durch die verschiedensten
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