Im Informationszeitalter
Umstände in absurde Erlebnissituationen gezogen wird: durch chemische Kampfstoffe, Unfälle mit klinischem Tod, Kälteschlaf, chemischer Einwirkung in der Chemokratie und schließlich durch die Möglichkeit, daß alles nur ein Traum war. Bis zu diesem Erwachen allerdings wird nicht nur das Bewußtsein, sondern vielmehr die ganze Person Tichys bis zur Hirntransplantation in fremde Körper demontiert, so daß eine Definition des “Ich” immer unmöglicher erscheint. “… ich streckte mich; mein Blick fiel auf den Spiegel, an der Gegenwand. Bandagiert und im Rollstuhl saß dort eine hübsche Negerin mit verdutztem Gesichtsausdruck. Ich berührte die eigene Nase. Das Spiegelbild tat desgleichen.” (Kongreß, S. 49). Ein wichtiges SF-Motiv wird hier variiert: Die Dividierung eines Individuums. Dabei ist mehr die Wahrnehmung wichtig, wie sie sich dem Leser über Tichy mitteilt, als die psychologischen Zustände des Protagonisten.
TRAUM oder drogeninduzierte HALLUZINATION (???)
3. medizinischer Eingriff: Tichy wird vitrifiziert. Diagnose: reaktive Psychose
“GROßER TRAUM” ^^- ^\\\\\\\\^ :
(als Rahmenkonstruktion)
In Abbildung 2. wird der Versuch gemacht, die Erlebnisebenen Tichys durch die im Text präsentierte Reihenfolge und durch eine Bindung an Orte zu ordnen (zur besseren Übersicht wurden die Übergänge von einem Zustand in den anderen durchnummeriert). Dabei können nicht annähernd die Unsicherheiten berücksichtigt werden, die sowohl Tichy als auch den Leser befallen, auf welcher Ebene er sich tatsächlich befindet: das Schaubild bezieht sich einzig auf die Beschreibungen, die Tichy aus seiner jeweiligen Situation für wahr hält. Aus diesem Grund wird auch auf eine Hierarchiesierung von Wahrheitsebenen verzichtet, obwohl aller Wahrscheinlichkeit nach der Kanal den höchsten “Wahrheitswert” hat: in ihm erwacht Tichy nach allen Träumen (oder Halluzinationen?; der Text läßt diesen Punkt offen.).
Einzig vor Tichys Vitrifizierung hat der Leser einen scheinbaren Wissensvorsprung vor dem Protagonisten: während Tichy das Krankenhaus, in dem er nach seiner
Verwundung erwacht, aufgrund der Erfahrungen, die er gemacht hat, für eine Halluzination hält, ahnt der Leser, daß diesmal die Halluzination Wahrheit ist - und wird für den Rest des Romans in diesem Glauben gelassen, bis Tichy erneut im Kanal erwacht! Hier könnte eine psychologische Deutung der Auflösung des “Ich” ansetzen, die aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde; im Vordergrund soll die Funktion der Auflösung und Remontage des Protagonisten in einer neuen Welt stehen.
Lem benutzt den Wechsel von Erlebnisebenen, die sich ablösen und überschneiden können, um den Gehalt an empirischer Textwirklichkeit so gering wie möglich zu halten. Damit baut er eine unerhörte Spannung auf, denn der Leser muß darauf gefaßt sein, aus jeder Situation plötzlich fortgerissen zu werden, um mit Tichy woanders/als etwas anderes wieder aufzuwachen. Die vier Monate Erzählungszeit legt Lem über den Traum und die Halluzination zwischen zwei Tagen fest und gibt den verschiedenen Erzählebenen so auf der letzten Seite einen verbindenden Rahmen. Jedes rationale Element, das zwischenzeitlich im Text als Erklärung für ein Phänomen herangezogen wird, wird durch eine andere Erlebnisebene ad absurdum geführt. Eine rationale Erklärung findet sich natürlich immer in dem permanenten Einsatz von Halluzinogenen, doch entgleitet dem Leser diese Basis, da er nicht beurteilen kann, wann die Wirkung des einen Mittels anfängt und die des anderen aufhört; dazwischen liegen die Träume, in denen wiederum ebenfalls Drogen existieren.
Robert Philmus (vgl.: SFS Juli 1986) sieht im “ Kongreß ” die logische Fortsetzung von Wells “The Time Maschine”; ein Mensch versucht im Alleingang, die bedrohliche Zukunft zu wenden, deren Konturen er schon in seiner Gegenwart entdeckt. Lem thematisiert die Zeitreise in seinen Kurzgeschichten und Romanen allerdings nur ungern; er bedient sich dieses SF-Motivs nur zur Veranschaulichung der selbstdefinierten “Phantomologie”:
“Lem nennt die Disziplin, die sich mit dergestalt zustandekommenden fiktiven Wirklichkeiten beschäftigt, Phantomologie und die Technik, welche es ermöglicht, eine Welt der totalen Illusion zu erzeugen, Phantomatik.” (Thomsen/Fischer 1980, S. 359).
Durch die subversive Tätigkeit der Phantomatik 11 wird die Beziehung des Menschen zur Welt pervertiert. Sie schließt nämlich
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