Im Interesse der Nation
Russe antwortete nicht. Statt dessen stand er entschlossen auf, ging zum Kleiderschrank und holte eine Whiskyflasche hervor. Dann nahm er zwei Gläser vom Glasbrett über dem Waschbecken. Mit Gläsern und Flasche in der Hand kehrte er zu seinem Stuhl zurück, zog den Nachttisch hervor, den er zwischen sie stellte, und goß zwei Gläser voll.
Carl zögerte. Er hatte seit Beginn des Auftrags keinen Tropfen Alkohol getrunken, und er war darauf eingestellt, daß es bis zum Ende des Auftrags so bleiben sollte. Doch die Situation lud nicht dazu ein, sich zu widersetzen.
Der Russe hob sein Glas, und sie tranken. Carl nippte nur, während der Russe sein Glas auf einen Zug leerte. Als sie ihre Gläser auf dem klapprigen kleinen Tisch abstellten, erhielt Carl einen ärgerlichen, deutlich mißbilligenden Blick seines militärisch wahrhaftig ranghöheren Gastgebers; Carl hatte in dessen Augen unmännlich getrunken.
»Sie sind also beim militärischen Nachrichtendienst«, stellte der Russe fest, während er sich ein neues Glas vollgoß und Carl einen fragenden Blick zuwarf, den Carl mit einer ablehnenden Geste beantwortete.
»Korrekt, Sir.«
»Gehört es zu Ihrem Auftrag, mit mir zu verhandeln oder mit einer Vernehmung zu beginnen?«
»Nein, Sir. Die militärische Führung meines Landes hat volles Verständnis für Ihren Wunsch, erst nach Schweden zu gelangen, bevor von einer Vernehmung die Rede sein kann. Mein Auftrag besteht darin, Sie auf möglichst sicherem Weg nach Schweden zu bringen.«
»Können Sie das?« lächelte der Russe. »Ein einziger Mann?«
»Ja, Sir! Falls Ihre Landsleute wissen sollten, daß Sie sich hier befinden, würde nicht einmal ein ganzer Spetsnaz-Verband Sie mit Sicherheit schützen können. Ich habe jedoch nicht vor, Sie jetzt schon in die praktischen Details einzuweihen, und das beruht nicht auf Mißtrauen, sondern ganz einfach darauf, daß ich die Angelegenheit hier drinnen nicht besprechen möchte.«
»Kennen Sie den Inhalt meines Briefes an die militärische Führung Ihres Landes?«
»In groben Zügen, Sir.« - »Sie haben dazu keinerlei Fragen?«
»Nein, Sir. Wir sind von der Authentizität des Inhalts überzeugt und kennen Ihre Identität. Im Augenblick haben wir nur den Wunsch, Sie so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen.«
Der Russe saß eine Weile stumm da. Es hatte den Anschein, als entschwebte er in Grübeleien, die von der gegenwärtigen Situation mit all ihren praktischen Problemen weit entfernt waren. Er rollte das leere Whiskyglas in der Hand herum, blickte plötzlich auf und suchte Augenkontakt. Er sah Carl lange forschend ins Gesicht.
»Junger Herr Marineoffizier, ich unterstelle mich hiermit Ihrem Befehl. Wie lauten die Anweisungen?« fragte der Russe, wobei er jedes Wort langsam und mit Nachdruck betonte.
Carl ahnte, daß er in Versuchung geraten würde. Die Antwort bot sich geradezu an. Er gab sich Mühe, so weich und neutral wie möglich zu antworten. »Herr Vizeadmiral«, begann er zögernd. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Seien Sie versichert, daß ich mein Äußerstes tun werde, um meine Aufgabe auf bestmögliche Weise zu lösen.«
Er machte eine Pause und änderte dann den Tonfall.
»Bis auf weiteres gebe ich Ihnen folgende Instruktionen: Von dem abgesehen, was sich schon in Ihrem Zimmer befindet, dürfen Sie nichts essen oder trinken, was Sie nicht von mir erhalten haben. Sie dürfen Ihr Zimmer nicht verlassen. Später werde ich Ihnen einen anderen Raum anweisen. Ich werde Sie jetzt einen Moment allein lassen, und wenn ich zurückkomme, mache ich ein paar Fotos von Ihnen, damit wir Ihre Papiere ausstellen können. Wir haben noch etwas Sorgen mit der Kleidung, aber darum werden wir uns auch noch kümmern. Dann werde ich noch Ihr Haar umfärben. Das ist vorläufig alles.«
»Mein Haar färben?«
Der Vizeadmiral sah eher amüsiert als überrascht aus.
»Richtig. Bevor ich das Paßfoto von Ihnen mache.«
»Meinen Sie, das hätte irgendwelche Bedeutung?«
»Vermutlich nicht, Sir.«
»Na ja, mein junger Herr Offizier, tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
Der Vizeadmiral erhob sich, als hätte er sich entschlossen, die Audienz zu beenden. Carl nahm Haltung an und verließ dann den Raum.
Er machte einen kurzen Spaziergang über das Botschaftsgrundstück. Es sah gut aus. Wer in Schußposition kommen wollte, mußte auf den Fluß, und das konnte nur nachts geschehen. Schwedische Rollgardinen waren ein ausreichender Schutz gegen
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