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Im Kühlfach nebenan

Titel: Im Kühlfach nebenan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Profijt
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hatten ihre angetrauten Rosenkavaliere in Cordhosen und karierten Hemden glatt vergessen
     und hingen mit leuchtenden Augen an den Lippen des Labersacks.
    Martin und Birgit hielten sich an den Händen und schauten betreten. »Die Finanzkrise hat ihren Ursprung in Amerika. Die Europäische
     Union will deutschen Autos das Fahren verbieten, |140| weil sie zu gut, zu schnell und zu sicher sind. Die Inder reißen unsere Arbeitsplätze an sich und die Chinesen kaufen den
     Kohle- und Stahlmarkt auf der ganzen Welt leer.«
    Applaus.
    »Über sogenannte Agrarbeihilfen finanzieren wir inzwischen jeden Bauern zwischen Danzig und Moskau.« Applaus.
    »Mit deutschem Geld werden Straßen von Riga nach Belgrad finanziert – aber dürfen wenigstens deutsche Firmen diese Straßen
     bauen?« »Nein«, rief jemand aus dem Publikum. Der Labersack ging gar nicht darauf ein. »Das können sie nicht. Diese Projekte
     werden europaweit ausgeschrieben. Da aber die deutschen Unternehmen mit ihren Steuergeldern diesen Wahnsinn bereits finanzieren,
     können sie keine Pfennigpreise anbieten wie die Letten, die Bulgaren oder die Tschechen. Sie bekommen nicht nur
nicht
den Auftrag«, Kunstpause, »sie bezahlen mit ihren Steuergeldern auch noch den tschechischen Unternehmer, der den Auftrag ausführen
     darf.«
    Applaus.
    »Stimmt das etwa?«, fragte ich Martin. »Ja und nein«, erwiderte mein ansonsten doch so präziser Naturwissenschaftler. »Gut
     zu wissen«, entgegnete ich ironisch, aber Martin ärgerte sich gar nicht über mich. Er war viel zu sehr von dem fasziniert,
     was in diesem Saal vor sich ging. Über die Ruhe des Redners, seinen Bildungsstand, die Vermeidung von Wörtern, die mit Rassismus
     oder Gewalt oder Deutschtümelei zu tun hatten.
    Ich fragte mich langsam, ob das hier eine Lehrstunde über europäische Subventionspolitik werden sollte, aber das Thema war
     offenbar bereits abgeschlossen.
    |141| »Und wie sieht es hier aus?«, fragte der Redner leise. Laut war er die ganze Zeit nicht gewesen, aber jetzt flüsterte er fast.
     »Ist es hier vielleicht besser?« Ich hatte den Eindruck, dass alle Anwesenden die Luft anhielten, um nur ja nicht als Störenfried
     der nun folgenden Stille aufzufallen. Wenn der Labersack die Kunstpausen nach rhetorischen Fragen ausdehnte, würde bald der
     erste Gartenzwerg mit Kugelwampe wegen Sauerstoffmangels vom Stuhl kippen.
    Tatsächlich war die Pause wohl doch nicht so lang, wie sie schien, denn niemand wurde ohnmächtig. »Ein deutscher Facharbeiter
     mit zwei Kindern hat weniger Geld zur Verfügung als eine gleich große Sippe kurdischer Hartz-I V-Empfänger , von denen keiner arbeitet. Die schon deshalb nicht arbeiten können, weil sie kein Deutsch sprechen.«
    Niemand rief mehr Zustimmung in den Saal, aber viele Köpfe nickten.
    »Um Himmels willen«, sagte Marlene. »Dafür sind diese Menschen aus ihrer Heimat vertrieben worden, weil sie sich ihre Sprache
     und ihre Kultur nicht verbieten lassen wollen.«
    »Und jetzt legen sie Bomben«, entgegnete ich. »Einzelne«, erwiderte Marlene scharf. »Auch unter Deutschen gibt es Mörder,
     aber die meisten sind anständige Bürger. So ist es bei den Kurden auch.« Sie hatte natürlich gleich wieder dieses Nächstenliebesgesabbel
     drauf. Wenn es nach ihr und ihren heiligen Schwestern ging, würden wir vermutlich die ganze Welt einladen und durchfüttern.
    »Ja«, entgegnete Marlene einfach. Na bitte. »Rentner, die vierzig Jahre geschuftet und in die Rentenkasse eingezahlt haben,
     bekommen kaum genug Geld zum Leben. Aber Jugendliche, die von der Schule abgehen, |142| ohne lesen und schreiben zu können, Menschen, die lieber abhängen als arbeiten, Zugewanderte, die keinen Cent in die Sozialversicherung
     gezahlt haben, und jeder beliebige Bürger der europäischen Union, der beschließt, im Wohlfahrtsstaat Deutschland zu leben,
     die alle bekommen das Geld, das Sie mit Ihrer Arbeit und Ihrem Rentenbeitrag verdient haben.«
    Jetzt applaudierten auch die Kleingärtner ausnahmslos. »Was für ein Arschloch«, murmelte Birgit in Martins Ohr.
    »Wieso?«, fragte ich. »Stimmt doch, was der sagt, oder?« »Nein«, sagte Martin. »So einfach ist es eben nicht.« »Wenn einer
     Geld einzahlt und ein anderer es kriegt, ist das ganz einfach. Nämlich einfach scheiße«, erklärte ich. »Und zu welcher Gruppe
     gehörtest du?«, fragte Martin. »Zu keiner«, sagte ich. »Es gibt weder eine Berufsgenossenschaft noch eine Rentenkasse für
     Autodiebe.«

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