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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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Familienoberhaupt spielen, aber im Grunde hatte für diese Rolle sein Bruder Kurt getaugt, nicht er. Dem träumerischen Fiete standen Kinder wie Jette und Felix nahe, während Hermann ihm im Herzen fremd war. Der junge Mann hätte ein Feld gebraucht, um seine Kraft in nützliche Bahnen zu lenken. Stattdessen streunte er in der Siedlung herum und erhielt weder die Aufgabe noch die Anerkennung, die ihm nottaten.
    Er begann auszuziehen und mit Gütern beladen heimzukehren, die er, wie er sagte, »ergattert« habe. Ein halb gerupfter Truthahn, eine Kiste mit Brotlaiben, ein Sack Pfeffer. Wie ein Jagdhund, der schwanzwedelnd vor seinem Herrn stand, überreichte er die Beute seinem Vater, der sie ohne Aufhebens entgegennahm. Herrgott, hätte Christoph ihn beschwören wollen, siehst du nicht, dass dein Sohn zum Dieb geworden ist, um dir zu imponieren? Was tat Hermann, um an sein unrecht Gut zu gelangen, riss er es alten Leuten aus den Armen, bedrohte er Kinder? Quälend war, dass er neuerdings Torben und Friedrich mitnahm, die ihn maßlos bewunderten. Christoph wollte nicht darüber nachdenken. Gewiss würde alles sich regeln, wenn erst der Krieg zu Ende war.
    Er musste mit Marthe wegen Kathi sprechen, von der er inzwischen sicher war, dass sie einen Liebhaber hatte. Sie mochte noch keine sechzehn sein, kaum älter als Jo, aber Jo war ein Kind und Kathi eine Frau. Und zwar eine, die einen Mann liebte und von ihm wiedergeliebt wurde.
    Woher willst du Klugschnacker das wissen?, rief er sich zur Ordnung. Du bist wohl kaum ein Mann, der sich auf derlei versteht, du weißt nicht einmal, wie es im Herzen deiner Frau aussieht.
    Aber wie es im Herzen seiner Schwester ausgesehen hatte, hatte er gewusst, und zwar noch ehe Marthe ihm geglaubt hatte. Zwei Wochen später hatte Marthe gesehen, was sie nicht hatte glauben wollen, und alles war zerbrochen. Würde sie es diesmal glauben? Würde Christoph den Mut aufbringen, es ihr zu sagen?
    Weshalb war er überhaupt so sicher, dass der Mann, der das Gesicht seiner Nichte zum Leuchten brachte, unannehmbar war? Womöglich war er ein netter Bursche aus dem Umfeld der Eycks oder ein Brite, der Marthe nach kurzem Widerstand für sich gewann. Doch wenn es anders war? So sträflich nachlässig er mit den übrigen Problemen der Familie umging, der Verantwortung für Kathi durfte er sich nicht entziehen. Er würde eines Tages Rechenschaft ablegen müssen.
    Ende August wurden Santa Annas Truppen bei Contreras und Churubusco geschlagen. Tage darauf wurde klar, dass Christophs Haus sich nicht halten ließ. Wortlos schleifte Inga den Überseekoffer, den einzigen, den ihnen die Entführer damals gelassen hatten, hinüber zu Marthe, wo sie von jetzt an leben würden. Christoph hatte um das Haus nicht gekämpft, aber jetzt, da es verloren war, übermannte ihn der Schmerz. Wie stolz war er gewesen, als er aus den von den Lutenburgs gemieteten Zimmern in dieses Haus gezogen war, mit wie viel Hoffnung hatte das Leben hier begonnen. Vielleicht schaffen wir es doch, hatte er gedacht, vielleicht kann das neue Haus ein neuer Anfang sein. Sie hatten nie Weihnachten darin gefeiert, und jetzt zogen sie in die Zimmer der Lutenburgs zurück.
    Unter einem Dach mit Katharina fühlte er sich vom Zwang, sie zu beobachten, besessen. Seit dem Überfall gingen die Frauen nur noch in Gruppen mit dem Verkaufskarren los, aber an mehreren Abenden der Woche ging Kathi allein, kehrte Stunden später zurück und sah aus, als schlüge ihr das Herz bis in den Hals.
    Er fasste den Plan, ihr nachzugehen. Es wurde September. Nachrichten sickerten spärlich in die besetzte Stadt, doch es hieß, Santa Anna sei bei Molino Rey, drei Meilen vor der Hauptstadt, geschlagen worden. Immer wieder hatte Christoph seinen Plan aufgeschoben, doch als Kathi an diesem Abend erneut mit einem Leuchten in den Augen loszog, rang er sich durch und folgte ihr.
    Sie hüpfte mehr, als sie ging, und ihr Haar, das ihr von einem Band gehalten in die Taille hing, hüpfte mit. Alle paar Schritte verbarg er sich in einem Hauseingang, ließ sie vorauseilen und lief dann auf leisen Sohlen hinterdrein. Sie schlug den Weg zum Brauereigelände ein, durchquerte die Pfosten, die vom Tor verblieben waren, und setzte sich auf einen Stoß verkohlter Latten. Was wollte sie hier? Alles Brauchbare war aus den Ruinen geschleppt worden, und einen trostloseren Ort für ein Stelldichein konnte es kaum geben. Dennoch bekam die Stätte mit ihren Gräsern, die zwischen Trümmern

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