Im Land der gefiederten Schlange
es eine Glocke aus Stille, die sie einschloss, so viele Füße auch gegen sie traten, so viele zornerfüllte Stimmen ihnen zuriefen, sie sollten den Weg freigeben. In der Glocke aus Stille stand auch die Zeit still, aber die Zeit tut das niemals länger als für einen Atemzug.
Die Glocke platzte auf. Katharina fiel ein, dass sie Felice verloren hatte, und im selben Moment fiel wohl dem Mann ein, dass er zurück zu seiner Einheit musste. Sie öffneten beide gleichzeitig den Mund, und als sie entdeckten, dass sie dasselbe taten, lachten sie unhörbar auf. Es war ernst, selbst das Lachen war ernst. Er griff ihr unter den Arm. Zusammen standen sie auf, ohne die Blicke voneinander zu lösen. Als sie aufrecht standen, hörte sie zum ersten Mal seine Stimme. »Ich muss Sie wiedersehen«, sagte er. »Ich weiß, es klingt vollkommen ungehörig. Aber ich muss.«
Katharina nickte. Wie in Trance zog sie ihren Füllfederhalter aus der Tasche und kritzelte auf die Karte, die er ihr hinhielt, die Adresse von Martinas Palais.
»Darf ich mich melden? Mein Name ist Valentin Gruber, Oberleutnant Seiner Majestät, Kaiser Maximilian von Mexiko.«
Seine Stimme war schön. Er sprach, als sänge er die Worte. Und erst bei diesem Gedanken fiel ihr auf, dass es Deutsch war, das er sprach, ein singendes, zärtliches Deutsch, das sie verzauberte. Katharina nickte, brachte kein Wort heraus und empfand einen reißenden Schmerz in der Brust, als er den ersten Schritt von ihr weg machte. Während er sich entfernte, sah er aus, als würde er gezogen. Ihre Blicke blieben ineinander verzahnt, bis sich Fremde zwischen sie drängten.
»Da ist sie ja!«, ertönte hinter ihr die Stimme von Hanne. »Da ist Felice. Von mir aus hätte sie zum Teufel gehen können.«
»Sie ist ja beim Teufel«, rief eins der anderen Mädchen und kicherte.
»Dass der Teufel so hübsch ist, hätte ich nicht gedacht.«
»Halt dein dummes Mundwerk, Ilse. Das ist einer von denen – siehst du das nicht? Deshalb habe ich ihre Hand ja losgelassen, weil ich gesehen habe, dass sie zu dem Wilden will.«
Noch immer wie im Taumel, drehte Katharina sich um. Zwischen sich lichtenden Menschenströmen scharte sich ihr Grüppchen unversehrt um Hanne. Einzig Felice fehlte. Ehe aber ihr Herzschlag aussetzte, entdeckte sie auch sie. Hoch zu Ross kam das Mädchen auf sie zu. Einer der Reiter, die sie vorhin beobachtet hatte, hielt sie vor sich im Sattel, der Indio, der ein prachtvolles dunkles Vollblut ritt. Mit einem Arm umfasste er Felice, hielt die freie Hand auf der Hüfte und lenkte das Tier allein mit Schenkeln und Gewicht durch die Menge. Ihre Schülerinnen kicherten noch immer, manche steckten die Köpfe zusammen, andere starrten ihn ungeniert an. Sie waren nicht die Einzigen. Der Mann zog Blicke auf sich. Vielleicht, weil sein Pferd so schön war, vielleicht, weil er für einen Mann seines Volkes ungewöhnlich groß war und ein Hemd trug, das zum Dunkel von Haar und Haut weiß leuchtete.
Katharina hatte ihn nicht angestarrt. Sie hatte nach Felice gesehen und zugleich den Mann vor Augen: Valentin Gruber, Oberleutnant Seiner Majestät Maximilian von Mexiko. Goldhelles Haar in Wellen, das in die Stirn und über schillernde Augen wehte.
In das Gesicht des Reiters, dem schwarzes Haar in die Stirn fiel, sah sie erst, als er sie fast erreicht hatte und Hanne zu Felice hinaufrief: »Was fällt dir ein, du verzogenes Ding! Weißt du nicht, dass du mit keinem von den Fremden gehen darfst?«
»Er ist ja keiner von den Fremden!«, rief Felice triumphierend. »Wir kennen einander schon lange, nicht wahr, Señor? Als ich Sie gesehen habe, musste ich einfach loslaufen. Immer treffen wir uns hier – auf dem Zócalo.«
Der Mann lächelte, was sein Gesicht veränderte. »Ich fürchte, die Schelte haben wir uns dennoch verdient«, sagte er. »Wir hätten deinen Freunden Bescheid geben müssen.« Dann packte er den Sattelknauf, schwang sich geschmeidig vom Pferd und hob Felice hinunter. Knapp verbeugte er sich, und als er den Kopf wieder hob, sah er Katharina an. »Es tut mir leid.« Worte, die auf irrwitzige Weise die Bedeutung änderten. Verzweifelt erwartete Worte, die Jahre zu spät kamen.
Zu ihrem Entsetzen lachte sie hysterisch auf. Ihre Hände langten nach Felice, nicht, um das Mädchen in ihren Schutz zu ziehen, sondern um sich festzuhalten. Der Mann, der in zwei Schritt Entfernung vor ihr stand, war Benito Alvarez.
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Vierter Teil
Mexiko-Stadt
Juni 1864
»Erzähl der Taube
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