Im Land der gefiederten Schlange
von deiner Liebe, mein Herz,
Schmücke sie mit Blumen, denn ich bin es …«
40
S ie hatte sich so sehr gewünscht, von ihm zu träumen. Wenigstens im Traum noch einmal seine Augen zu sehen, weil der Gedanke, sie könnten in der Erinnerung verblassen, sich anfühlte wie ein Messerstich. Sie hatte sich gefragt, warum sie sich so betrug, warum ihr Herz nicht aufhörte zu rasen, als hätte sie in ihren zweiunddreißig Jahren nie einen Mann mit schönen Augen gesehen. Aber das Herz raste weiter, und es hatte jedes Recht dazu. Sie betrug sich so, nicht, weil Valentin Grubers Augen in der Tat die schönsten waren, die sie je bei einem Mann gesehen hatte, sondern weil er sie angeschaut hatte. In einer Menge von hunderttausend Menschen, zwischen einstürzenden Triumphbögen, prügelnden Polizisten, aufmarschierenden Kaisern und entfliehenden Rebellen sah er keinen als sie.
Davon wollte sie träumen, den Augenblick, der ihr geraubt worden war, im Traum noch einmal erleben. Stattdessen riss das Geheul der Llorona sie aus dem Schlaf, als würde sie noch in der deutschen Siedlung leben. Die Weinende musste die Straße zwischen dem Palais und der Alameda entlangstreichen, und ihr Geheul war so markerschütternd, dass Katharina es bis in ihr Zimmer hörte. Mächtig war die Versuchung, hinüber zu Martina zu laufen, um mit dem Grauen nicht allein zu sein.
Aber wie alt war sie? Würde sie die Dämonen der Kindheit je überwinden, wenn sie sich beim ersten Schrecken in die Arme ihrer Freundin warf wie seinerzeit in die ihrer Eltern? Obwohl ihr die Beine zitterten, zwang sie sich, aufzustehen und das Fenster zu öffnen. Sie war sicher, das Geheul würde verstummen, sobald sie hinaussah, denn La Llorona war schließlich nichts als ein Traumgespinst, eine Folge der Mondsucht, die sie von irgendeiner Tante geerbt hatte. Dann hielt sie inne. Konnte sie die wirklich von der Tante geerbt haben, wenn sie überhaupt nicht Marthes Tochter war? Wenn sie jedoch Christophs Tochter war, war sie schließlich auch mit jener Tante verwandt – aber war sie Christophs Tochter?
Das Mühlrad in ihrem Kopf begann sich von neuem zu drehen, und sie wollte doch nichts als schlafen und von Valentin Gruber träumen. Sie riss das Fenster auf. Das Geheul verstummte nicht. Stattdessen sah sie das, was sie am meisten gefürchtet hatte. Hinter der Gartenmauer des Palais verschwand eine Gestalt in wehendem Gewand. Ich werde verrückt. Ich sehe Gespenster aus mexikanischen Legenden. Starr vor Schreck hockte sie am Fenster und fror in der warmen Sommernacht, bis die Klage der Frau, die ihre Kinder getötet hatte, in der Ferne verklang. Eine Weile dauerte es, ehe sie in der Lage war, das Fenster zu schließen und sich niederzulegen.
Als sie die Augen schloss, sah Valentin Gruber sie an. Ich muss Sie wiedersehen, hatte er gesagt. Gewiss hatte er es gleich wieder vergessen, aber im Traum wollte sie daran glauben, dass er jedes Wort ernst gemeint hatte wie den Blick seiner Augen, frei von Spott und Zynismus, Täuschung und Doppelsinn.
Sie schlief ein und träumte nicht von Valentin Gruber, sondern nach Jahren wieder vom Malecon. Wieder hörte sie, wie Sand und Kiesel unter den Rädern knirschten, sah die Menschenmassen, die sich zu beiden Seiten der Uferstraße drängten, die Kronen der Palmen und die Stände, auf denen sich Pyramiden von Gütern häuften. Hinter den Ständen, schlecht geschützt von der Ufermauer, verloren sich ein paar Blechhütten, und dahinter erstreckte sich das Meer. Wie der Traum weiterging, glaubte sie zu wissen, doch von den Träumen war nie einer wie der andere. Ein jeder besaß seinen eigenen Schrecken.
Diesmal kam der Junge, der einen Beschlag vom Zaumzeug ihres Ponys stehlen wollte, nicht zu Fuß, sondern zu Pferd, und er war auch kein Junge mehr, sondern erwachsen geworden. Katharina stand auf dem Kutschbock. Neben dem Wagen stand ihre Mutter, die das bucklige Päckchen unter dem Arm trug, und die Mutter hatte kein Gesicht.
Der Junge, der ein Mann geworden war, sprang geschmeidig vom Pferd, doch er streckte die Hand nicht nach dem Zaumzeug aus. Das Päckchen war es, was er wollte. Aus dem Nichts hielt die gesichtslose Mutter eine Peitsche in der Hand und schlug mit aller Kraft zu, bis der Mann zu Boden stürzte. Im selben Moment riss Katharina die Kutscherpeitsche aus der Halterung und schlug, ohne innezuhalten, auf den Körper des Mannes ein. Wo sie hintraf, verfärbte sich sein Hemd, bis sie nichts mehr als Rot sah und
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