Im Land der gefiederten Schlange
lieb«, sagte sie, »mit meinen beiden Hälften.«
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte er und schob sie sachte von sich. »Das ist nur die eine, die das tut, aber vielleicht genügt die mir ja, vielleicht habe ich ja auch nur die eine lieb. Und jetzt geh nach Hause, meine Cempoalxochitl, mein süßes, tollkühnes, zweigeteiltes Mädchen.«
Sie wollte ihn dazu bringen, ihr für morgen ein Wiedersehen zu versprechen, aber er weigerte sich, noch ein Wort zu sagen, lachte und schickte sie auf den Weg. Erst als sie ihn außer Sichtweite wusste und schon das Dach ihres Hauses aufragen sah, bemerkte sie, dass sie die Haare offen und Benitos Sarape noch über den Schultern trug. Es war, als ginge für diesmal die andere Hälfte von ihr nach Hause. Die, die eingesperrt war. Die, der Benito gesagt hatte, er habe sie lieb. Geradezu gewaltsam wünschte sich diese Hälfte, zu ihm zurückzulaufen und ihm zu sagen, dass sie auf die erste Hälfte verzichten konnten, dass sie nur diese wollte, die zu ihm gehörte. Zu Veracruz und zur Llorona, zum sauren Wein von der Kirche, zur gefiederten Schlange und zu dir.
17
Am folgenden Tag forderte die verschmähte erste Hälfte ihr Recht. Ihre Mutter hatte mitbekommen, dass sie sowohl ohne Stefan als auch ohne Wagen heimgekehrt war, und drohte, ihr weitere Besuche bei Georgia Temperley zu verbieten. Es war Stefan, der sie rettete, indem er ein abenteuerliches Lügenmärchen erfand. Katharina sei nicht wohl gewesen, deshalb habe sie sich früher als er im Wagen der Temperleys auf den Weg gemacht. Unterwegs sei zu allem Unglück dem Wagen die Deichsel gebrochen, also habe der Indio-Bursche Katharina zu Fuß nach Hause begleitet, und da ihr so kalt gewesen sei, habe er ihr seinen Sarape gegeben.
»Den stinkenden Läusefänger wirf auf den Müll«, befahl die Mutter und wollte Katharina den Sarape aus den Händen reißen.
Der Sarape stank nicht im Geringsten, sondern roch nach Benito. Er mochte alt und verschlissen sein, aber er war von einem herrlichen Rot und so sauber wie alles, was Benito trug. In ihrer Not behauptete Katharina, sie müsse ihn dem Indio der Temperleys zurückbringen, und in der Nacht weinte sie in den rauhen Stoff, weil es ihr weh tat, Benito zu verleugnen. Das ständige Weinen wurde allmählich lästig, doch sie wusste, dass sie es geschehen lassen musste. Irgendwann, wenn die andere, vernachlässigte Hälfte ganz zu ihr gehörte, wenn der Riss geheilt war, würde es aufhören.
Dafür, dass er sie gerettet hatte, musste sie sich wieder einmal einen von Stefans Vorträgen anhören. Es gehe so nicht weiter, erklärte er, der Hermann habe ihn beiseitegenommen und ihm eingeschärft, auf Katharina ein Auge zu haben, andernfalls werde er selbst es tun.
»Und was geht es den Hermann an, was ich tue?«, fuhr Katharina auf.
Stefan überlegte, dann sagte er: »Nun, nach Onkel Fiete wird ja wohl Hermann das Oberhaupt der Familie. Und da es Fiete in letzter Zeit nicht leichtfiel, uns alle im Griff zu behalten, meint eben Hermann, er müsse es tun.«
»Ich brauche kein Oberhaupt der Familie«, rief Katharina, »weder Onkel Fiete noch Hermann noch sonst irgendwen!«
Stefan stieß ein seltsames, verlorenes Lachen aus. »Das sagt sich so leicht, Kathi. So verlockend. Aber in Wahrheit brauchen wir den Halt dieser Familie vermutlich mehr, als uns bewusst ist. Könntest du dir vorstellen, ohne das alles hier zu leben, ohne Onkel Fietes Geschichten und die Weihnachtsbäume deiner Mutter, ohne unsere Kinderecken und die Heißwecken von eurer Sanne?«
Jäh fiel Katharina ein, wie sie sich als Kind getröstet hatte, sooft ihr etwas Angst einjagte. Egal, wie es ausgeht, hatte sie sich gesagt, heute Abend stehst du bei der Sanne in der Küche und naschst vom Weckenteig.
»Überleg es dir gut«, sagte Stefan. »Könntest du dir wirklich vorstellen, ohne alles, was uns vertraut ist, in einer Welt zu stehen, deren Regeln wir nicht kennen und in der wir nicht willkommener sind als ihre Angehörigen in der unseren?«
Vor Katharinas geistigem Auge huschte ein Bild von Benitos Mutter und Miguel vorbei. Sie wollte Stefans Gerede nicht länger hören, aber das Unbehagen, die Beklommenheit blieb. Wenn sie es bisher nicht hatte wahrhaben wollen, so fiel es jetzt gnadenlos über sie her: Die beiden Hälften von ihr waren unvereinbar. In der Welt der einen würde die andere immer unwillkommen sein.
Auf einmal kam ihr noch ein Gedanke. »Weshalb schwingt sich überhaupt der Hermann zum
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