Im Land der gefiederten Schlange
Sanne, von Onkel Fiete wie von den munkelnden Basen. Immer hatte sie ihr Schauder über den Rücken gejagt, und in mancher Nacht hatte sie gefürchtet, das grausige Heulen der Mörderin zu hören. Benitos Geschichte jedoch erschien ihr kein bisschen grausig. Sie erschien ihr nichts als traurig.
Er trank wieder Wein. Sein Lachen klang unschön. »Ich kann deine Gedanken lesen. Bei allen Himmeln, denkst du, warum habe ich mich nur mit diesem abergläubischen, heidnischen Mexikaner eingelassen?«
»Nein, das denke ich nicht«, widersprach sie, auch wenn er ihr nicht zuhörte.
»Falls dich das tröstet, in Wirklichkeit glaube ich an das ganze Zeug einen Dreck«, trumpfte er auf und trank noch mehr Wein.
»Woran glaubst du einen Dreck? An La Llorona?«
»Ach, von La Llorona gibt es tausend Geschichten«, erwiderte er wegwerfend. »Jeder denkt sich seine eigene aus und biegt sie sich so zurecht, wie es ihm passt, um seine Kinder oder Weiber im Zaum zu halten. Diese ist nur eine von vielen. Die mexikanischste und damit vermutlich die verrückteste, in die tausend andere Geschichten wie in Maisbrei hineingequirlt sind.«
»Und woran glaubst du dann nicht?«
»An die beliebte Legende von den dämlichen Mexicas, die im Schlamm hausten und den einrückenden Spanier Cortez für ihren heimgekehrten Gott hielten, weshalb sie auf die Knie stürzten und ihm ihr Land auf dem Tablett überreichten. Dieses Land ist erobert worden, wie alle Länder erobert werden. Ohne Götter. Mit Waffen und Blut.« Er sah aus, als wollte er in den Wein spucken oder den Becher, den er in seinen schönen Händen drehte, zerdrücken.
Die Tür des Lokals wurde aufgerissen, und lautes Volk begann in den Schankraum zu strömen. Scharen besetzten die leeren Tische und brüllten nach dem Wirt. Benito stellte den Becher ab. Von seinen Fingern rann ein Zittern bis hinauf zur Schulter. »Macht es dir etwas aus zu gehen?«, fragte er. »Ich habe Angst, zu viel zu trinken. Ich bin dazu nicht Manns genug.«
Ihr war alles recht, jeder Ort, jede Bedingung, solange er nicht darauf bestand, sich jetzt von ihr zu trennen. Er führte sie aus dem Lokal, legte besitzergreifend den Arm um sie und ging schnellen Schrittes mit ihr durch die Nacht. Wohin er wollte, sagte er nicht, und dass ihnen Menschen begegneten, schien ihn nicht zu stören. Von mir aus könntest du gern öfter zu viel trinken, dachte sie im Stillen und grub die Finger in das harte Fleisch seiner Taille, was Kraft kostete und köstlich war.
Als er nach einer Weile noch immer nicht sprach, fragte sie: »Dieser Gott aus der Legende, an die du nicht glaubst, ist das die gefiederte Schlange, von dem du mir einmal erzählt hast, er habe sein Blut vergossen, um uns Leben zu geben?«
Benito nickte.
Wie hatte Onkel Fiete an Weihnachten gesagt? Möge die Rache der gefiederten Schlange, die uns so schwer geschlagen hat, befriedigt sein und euch verschonen. »Benito, wofür rächt sich der Schlangengott? Warum glaubten deine … deine Vorfahren, dass er wiederkommt?«
Er verlangsamte seinen Schritt und sah ihr mit erhobener Braue ins Gesicht. »Weshalb fragst du mich eigentlich nach all diesen Dingen? Dabei geht es doch um Mexiko – um dieses verdrehte, unordentliche Land, das euch nicht betrifft.«
Sein Ton verletzte sie. Sie stieß ihn von sich und begriff gleich darauf, dass er recht hatte. Er zuckte mit den Schultern und ging weiter.
Sie rief ihn zurück, rief seinen Namen durch die samtene Luft der Nacht. Als er sich nicht umdrehte, kamen ihr die Tränen, sosehr sie sich beschwor, sie habe zum Weinen keinen Grund. Halbblind lief sie ihm hinterher, packte den roten Sarape und riss ihn von seinen Schultern. Er drehte sich um, sah, dass sie tränenüberströmt war, und schloss sie in die Arme.
Als Kind hatte Katharina kaum je geweint. Jetzt erlebte sie einen wahren Wolkenbruch wie in der Nacht, als sie mit dem Blut an den Beinen erwacht war, und genau wie damals wusste sie nicht, warum sie weinte. Nur dass es guttat, dass Benito sie festhielt, und dass die Stöße, die sie schüttelten, irgendwann leichter wurden. Als sich ihr Atem beruhigte, fühlte sie sich wie frisch gewaschen. Sie hob den Kopf, wurde sich klar, wie furchtbar sie aussehen musste, und wollte ihn gleich wieder senken.
Er aber legte ihr eine Hand unters Kinn und zwang es in die Höhe. Mit der freien Hand zog er ihr die Schleifen aus den Zöpfen und löste ihr die Flechten, Strähne um Strähne, so langsam, als würde er einen
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