Im Land Der Weissen Wolke
er konnte die Mannschaft auch nicht im Stich lassen. Jetzt war er dabei, und auch sein Leben hing davon ab, dass der Wal erlegt wurde. Nachdenken konnte er später ...
Schließlich trieb der Wal bewegungslos im Wasser. Lucas wusste nicht, ob er wirklich tot war oder nur völlig erschöpft, aber die Männer konnten ihn auf jeden Fall längsschiffs ziehen. Und dann wurde es fast noch schlimmer. Das Schlachten begann. Die Männer stießen lange Messer in den Leib des Wals, um den Speck herauszuschneiden, der dann gleich auf dem Schiff zu Tran verkocht wurde. Lucas hoffte, dass das Tier wirklich tot war, als die ersten Stücke aus seinem Leib gerissen und an Deck geworfen wurden. Minuten später watete man dort in Fett und Blut. Jemand öffnete den Kopf des Tieres, um den begehrten Walrat herauszuholen. Copper hatte Lucas erzählt, dass daraus Kerzen, Reinigungs-und Hautpflegemittel hergestellt wurden. Andere suchten im Darm des Tieres nach dem noch wertvolleren Ambra, einem Grundstoff der Parfümindustrie. Es stank bestialisch, und Lucas schüttelte sich, als er an all die Duftwasser dachte, die Gwyneira und er auf Kiward Station besessen hatten. Er hätte nie gedacht, dass man Anteile daraus aus den stinkenden Eingeweiden eines grausam getöteten Tieres gewann.
Inzwischen wurde Feuer unter riesigen Kesseln entzündet, und der Geruch auskochenden Walspecks erfüllte das Schiff. Die Luft schien geschwängert mit Fett, das sich in den Atemwegen festzusetzen schien. Lucas beugte sich über die Reling, konnte dem Gestank nach Fisch und Blut aber nicht entkommen. Er hätte sich am liebsten übergeben, doch sein Magen war längst völlig leer. Vorhin war er durstig gewesen, aber inzwischen konnte er sich nicht mehr vorstellen, dass irgendetwas anders schmecken würde als nach Tran. Verschwommen erinnerte er sich, dass man ihm das Zeug als Kind eingeflößt hatte und wie grässlich er es gefunden hatte. Und jetzt steckte er mitten in einem Albtraum aus gewaltigen Speck-und Fleischteilen, die man in stinkende Kessel warf, um dann den fertigen Tran in Fässer zu entleeren. Der Schiemann – zuständig für das Füllen und Stapeln der Fässer – rief ihn an, ihm beim Schließen der Behältnisse zu helfen. Lucas tat es, wobei er versuchte, zumindest nicht in die Kessel zu sehen, in denen die Teile des Wals siedeten.
Die anderen Männer schienen keine Abscheu zu empfinden. Im Gegenteil, der Geruch schien ihren Appetit anzuregen; sie freuten sich offensichtlich auf eine frische Fleischmahlzeit. Zum Bedauern der Männer konnte man das Fleisch des Wals nicht aufheben – es faulte zu schnell –, und so überließ man den größten Teil des Körpers nach dem Abspecken dem Meer. Für zwei Tage schnitt der Koch jedoch Muskelfleisch aus dem Wal und verhieß den Männern ein Festessen. Lucas wusste genau, dass er keinen Bissen davon anrühren würde.
Endlich war es so weit vorbei, dass die Überreste des Wals vom Schiff gelöst wurden. Das Tier war nun weitgehend ausgeweidet. Nach wie vor lag das Deck voller Speckteile, und man watete in Schleim und Blut. Das Trankochen würde noch stundenlang weitergehen, und bis das Deck gesäubert wäre, konnten Tage verstreichen. Lucas bezweifelte, ob das überhaupt möglich war – ganz sicher nicht mit den einfachen Besen und Wassereimern, die man gewöhnlich zum Scheuern des Decks benutzte. Vermutlich würde erst der nächste heftige Sturm, der das Deck überschwemmte, alle Spuren des Schlachtens tilgen. Lucas wünschte sich einen solchen Sturm beinahe herbei. Je mehr Zeit er fand, die Ereignisse dieses Tages gedanklich zu verarbeiten, desto mehr geriet er in Panik. An die Lebensumstände während der Reise, an die Enge und die ungewaschenen Körper könnte er sich vielleicht irgendwann gewöhnen. Aber sicher nicht an Tage wie diese! Nicht an dieses Töten und Ausweiden eines gewaltigen, aber offensichtlich friedfertigen Tieres. Lucas hatte keine Ahnung, wie er die nächsten drei Jahre überstehen sollte.
Aber dann kam ihm der Umstand zu Hilfe, dass der erste Wal der Pretty Peg so schnell ins »Netz« gegangen war. Skipper Milford beschloss, in Westport anzulegen und die Beute abzuliefern, bevor er erneut auslief. Das kostete die Mannschaft schließlich nur wenige Tage, sicherte aber einen guten Preis für frischen Tran und leerte die Fässer für die weitere Fahrt. Die Männer frohlockten. Ralphie, ein kleiner blonder Mann schwedischer Abkunft, schwärmte schon von den Frauen in
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